Kalla Malla
Einer der wenigen Filmemacher und Autorenfilmer, die konsequent gegen den Strom kinematographischer Idiotie schwimmen, ist sicherlich John Boorman. Einer, der bereit ist, Jahre um ein Projekt zu kämpfen, wenn er daran glaubt. Einer, der sich nie in irgendein perverses Genreschema hat pressen lassen. Gewiss, er hat sich auch Flops geleistet, etwa den »Exorzist 2 - Der Ketzer«. Aber manches andere, das er gemacht hat, hat die Filmgeschichte bereichert: »Point Blank« mit Lee Marvin gilt nicht nur unter Krimifans als Kultfilm. Mit Lee Marvin - und Toshiro Mifune - hat Boorman auch einen Film gedreht, der immer noch zu entdecken wäre: »Die Hölle sind wir«. Auch wenn die Filmkritik diesen Streifen als »zu uneinheitlich inszeniert« empfand, »um ihn als guten Film bezeichnen zu können« (film-dienst), ist er für Boormans Werdegang entscheidend: Nach einer Schiffshavarie werden ein Japaner und ein Amerikaner auf eine unbewohnte Insel im Pazifik verschlagen. Anfangs Feinde, macht die Not aus ihnen Gefährten. Gemeinsam bauen sie ein Floß, um damit auf einer anderen Insel zu landen, wo sie in die Luft gesprengt werden.
Mit diesem Film entdeckte Boorman ein Thema, das sich seitdem wie ein roter Faden durch all seine Filme zieht: die Auseinandersetzung von Männern mit der Natur, den Zwiespalt von Natur und Zivilisation. Besonders deutlich wurde das in Boormans »Beim Sterben ist jeder der Erste« mit Jon Voight und Burt Reynolds: Die abenteuerliche Kanufahrt von vier Großstädtern endet im Fiasko, der moderne Mensch ist seiner natürlichen Umwelt bereits so sehr entfremdet, daß er sie nicht mehr in den Griff kriegt. In der Science Fantasy »Zardoz« trat für Boorman noch eine andere, thematisch mit der Natur verbundene Komponente hinzu: die Magie. Im Sieg des Exterminators Zed (Sean Connery) über die dank utopischer Technologie »Unsterblichen« des sterilen Vortex beschwört der Regisseur den »Triumph der Magie über die Wissenschalt«.
Die Kreise von Natur und Magie stehen auch im Mittelpunkt von Boormans filmischer Adaption der Artuslegende: »Excalibur« mit Nicol Williamson als Merlin. Der Zauberer Merlin, so Boorman vor vier Jahren im Gespräch mit dem Verfasser, repräsentiere die natürliche Magie: »Freilich sehen wir ihn in der Geschichte als jemand, der seine Macht verliert. Er ist der letzte Zauberer, er steht am Ende einer Reihe von Druiden und Alchimisten. Der heutige Mensch verliert sein magisches Verhältnis zur Natur und verläßt sich mehr auf seinen Verstand. Eben das ist eine der wesentlichen Aussagen der Legende, daß der Mensch seine magische Beziehung zur Natur einbüßt und eine Richtung einschlägt, die direkt zu unserer gegenwärtigen Technologie und Wissenschaft führt. Aber ohne diese magische Beziehung sind wir unvollkommen. Wir sind der Natur entfremdet, haben etwas Lebenswichtiges verloren. Wir haben zu viel unserer Technologie geopfert.«
Fasziniert vom Artusmythos, suchte Boorman, wenigstens unbewusst, nach einem modernen Pendant. Im Juni 1982 fand er es, als ihn Rospo Pallenberg, sein engster Mitarbeiter, auf einen Artikel von Leonard Greenwood aufmerksam machte, der zehn Jahre zuvor, am 8. Oktober 1972, in der Los Angeles Times erschienen war. Überschrift: »Long Hunt for Sons Ends in Success,but..« Greenwood berichtete von der elf Jahre dauernden Suche eines peruanischen Ingenieurs, der mit dem Abholzen von Regenwäldern in Brasilien zu tun hatte, nach seinem Sohn Ezequiel, der von kriegerischen Amazonas-Indianern vom Stamm der Mayurunas entführt worden war. Als er schließlich vor dem 21jährigen Häuptling dieses Stammes stand, erkannte er in ihm - seinen Sohn. Boorman: »Was mich an dieser wahren Geschichte besonders faszinierte, war die Tatsache, daß er ihn fand, sich dann aber entschloß, ihn doch bei den Indianern zu lassen. Da ich selbst Kinder habe, die dabei sind, erwachsen zu werden, weiß ich, was es heißt, sich von seinen Kindern zu trennen, das müssen Eltern nun einmal tun, wenn ihre Kinder groß sind. Es schien mir also auch eine Geschichte auf dieser menschlichen Ebene zu sein, eine Geschicnte über die Abnabelung zwischen Eltern und Kindern und darüber, wie man so etwas schafft. Ich habe mich gefragt, was ich an der Stelle dieses Mannes getan hätte: Hätte ich überhaupt so lange gesucht? Und wenn ich ihn gefunden hätte, hätte ich den Mut gehabt, ihn bei diesem Volk zurückzulassen? Was also passierte, war, daß der Vater sich entschloß, ohne seinen Sohn wieder zurückzukehren, und daß der Stamm, mit dem der Junge lebte, von einem anderen Stamm, der Gewehre hatte, bedrängt wurde. Der Vater hatte ein Jagdgewehr bei sich gehabt, und dadurch lernten die Indianer die Wirksamkeit dieser Waffe kennen. Als sie nun von diesem feindlichen Stamm angegriffen wurden, faßte der Junge den Entschluß, der Spur seines Vaters bis in die Stadt zu folgen und ihn um Hilfe zu bitten. Also machte er sich auf den Weg in die Stadt und fand seinen Vater. Es gab in dem Fall noch einen älteren Bruder, und gemeinsam zog man zurück in den Dschungel, um dem Stamm zu helfen, sich gegen seine Nachbarn zu erwehren. Vater und Bruder kehrten dann wieder nach Hause zurück.«
Unverzüglich machten sich Boorman und Pallenberg an eine Filmbearbeitung des eindrucksvollen Zeitungsartikels, Boorman nicht zuletzt mit der Intention, gerade die der Geschichte innewohnende mythologische Qualität herauszuarbeiten: »Wenn eine Geschichte eine nachhaltige Wirkung erzielen soll, muß sie eine mythologische Dimension besitzen. Unsere Erzählung muß Punkt für Punkt wahrheitsgetreu sein, aber ihr Gewicht wird davon abhängen, inwieweit wir es schaffen, darin unser verschüttetes Stammesbewußtsein wachzurufen - diese Vergangenheit, die wir hinter uns gelassen haben, ohne uns auch nur einmal nach ihr umzudrehen. Hier in einigen Worten, worum es in unserem Film geht: »Der Smaragdwald« (»Emerald Forest« — so der Original-Filmtitel) wird durch den Bau eines gigantischen Staudamms bedroht. Zwei Stämme, die »Unsichtbaren« und die »Wilden«, werden dadurch aus ihren Gebieten vertrieben und sind gezwungen, sich zu bekriegen. Die tragischen Ereignisse, die das Leben des Ingenieurs und seines Sohnes markieren, führen zu einer Gegenüberstellung: auf der einen Seite ein Leben in Einklang mit der Natur, auf der anderen Seite die Ausbeutung eben dieser Natur.«
Es sind die »Unsichtbaren«, Indianer, die dank spezieller Tarnfarben harmonisch mit der Umwelt des Regenwaldes verschmelzen, die im Film den siebenjährigen Tommy entführen, Sohn des Ingenieurs Bill Markham, der den Bau eines gewaltigen Staudamms überwacht, dessentwegen der Regenwald abgeholzt wird. Boorman: »Der Vater steht eindeutig für unser Bestreben, uns die Natur zu unterwerfen, sie zu kontrollieren, sie zu erobern. Die Lebensweise der Indianer dagegen ist gekennzeichnet von einer Verbundenheit mit ihrem Lebensraum, die uns schon lange fremd ist.« Tommy wird in Boormans Mythologie zu einer Art Tarzan, nicht Johnny Weissmuller — natürlich nicht, eher Christopher Lambert im besten Tarzan-Film »Greystoke« verwandt (kein Wunder, daß beide Filme etwa zur selben Zeit entstanden), oder besser zu einer Art Artus, der im Regenwald, als Tomme, aufgezogen wird von Wanadi, dem weisen Schamanen des »unsichtbaren Volkes«.
Wanadi ist nach dem Vorbild eines echten Schamanen vom Stamme der Kamaiura geformt, den Boorman bei der Vorbereitung des Films im August 1983 getroffen hat, mehr noch aber nach dem Vorbild des mit der Natur harmonierenden Zauberers Merlin. Nach seiner Initiationsfeier gelobt Tomme (gespielt von Boorman-Sohn Charley), um die Hand der schönen Kachiri zu gewinnen, aus dem Gebiet des mit den »Unsichtbaren« verfeindeten »wilden Volkes« die heiligen Steine zu holen, aus denen sein Volk die Tarnfarbe gewinnt. Eine Suche, die entfernt an die nach dem Gral erinnert. Dabei stößt der inzwischen 17jährige auf seinen leiblichen Vater, der von den »Wilden« verfolgt und verwundet wird. Im Stamme der »Unsichtbaren« gesundgepflegt, erkennt Bill Markham, daß er seinen Sohn nicht zurückholen kann, darf in die Zivilisation und kehrt allein zurück in das, was die Indianer die »Welt der Toten« nennen.
Als dann aber jene Zivilisation immer mehr in ihr angestammtes Gebiet vordringt, fallen ihr die »Wilden« zum Opfer, sie lassen sich korrumpieren und rauben die Frauen der »Unsichtbaren« zum Preis von Schußwaffen und Alkohol. Tomme, der nach dem gewaltsamen Toa Wanadis die Führung des Stammes übernimmt, ist gezwungen, in die Stadt zu gehen, um seinen Vater um Beistand im Kampf gegen die automatischen Gewehre der betrunkenen »Wilden« zu bitten, und gemeinsam befreien sie die Frauen aus einem Bordell am Rande des Regenwaldes. Hier endet die wirkliche Geschichte und hier sollte auch der Film enden, doch fühlte sich Boorman verpflichtet, seine magische Botschaft unterzubringen. Was Bill Markham mit Sprengstoff nicht gelingt, das glückt Tomme und dem Rest seines Volkes durch Beschwörung des indianischen Zaubers - den Staudamm, Symbol der Ziivilisation, im Andonnern der Wassermassen sintflutartiger Regenfälle bersten zu lassen. Die Botschaft war Boorman gewiß ein echtes Bedürfnis, aber sie wirkt allzu konstruiert.
Ansonsten besticht der Film, der nur ganz wenige Atelieraufnahmen enthält, in Fotografie (»Diva«-Kameramann Philippe Rousselot) und Gestaltung durch Realismus, und zwar in einer Weise, daß es Franz Everschor, der den Streifen für den »film-dienst« rezensiert hat, unheimlich wird: »Boorman ist ein filmischer Fanatiker, der sich auch hier wieder so bedingungslos in sein Projekt verrannt hat, wie dies auf gänzlich anderem Sektor nur noch Ken Russell und Nicholas Roeg tun. Seine Filme sind beherrscht von einer ungewöhnlichen inszenatorischen Kraft und von einer noch ungewöhnlicheren Rigorosität des Anspruchs. Das macht dem Zuschauer die Distanzierung schwierig, zumal, wenn die Mittel der modernen Filmtechnik so überlegt genutzt werden wie hier. Der Dschungel, der sich in einem gut ausgestatteten Kino wirklich zu einer Art Rundumerlebnis entfaltet, zieht unweigerlich in den Bann des Abenteuerlichen und Exotischen.«
Aber warum - zum Teufel - Distanzierung? Warum sollte Abenteuerliches und Exotisches nicht in seinen Bann ziehen? Und warum sollte ein Filmerzähler kein Fanatiker sein - genauso, wie ein guter Schriftsteller? Muß Boorman nicht Fanatiker sein, um die, allein schon planungsbedingten, technischen und natürlich auch finanziellen, Strapazen einer solchen Produktion zu meistern? Die 18 Monate Drehbucharbeit und Recherchen, drei Reisen nach Brasilien, eine nach Mexiko und vier nach Los Angeles, bevor am 13. März 1984 die erste Klappe fällt? Den unaufhörlichen Regen, in dem die Arbeit der ersten zwei Drehwochen sprichwörtlich ersoff? Den Ausfall von Lichtmaschinen und Generatoren wegen der hohen Luftfeuchtigkeit? Den Ausstieg mehrerer Teammitglieder, denen der Geduldsfaden gerissen war? Boorman: » ...wir alle mussten mit den Dingen fertig werden, mit denen man in den Regenwäldern nun einmal rechnen muss: Man wird gestochen, gebissen, gekratzt und gefressen. Wer in den Urwald vordringt, muss sich darüber im klaren sein, daß er ein Teil der Umwelt wird und beispielsweise Tausenden von Insekten Tag für Tag als Nahrung dient.«
Sein Drehtagebuch hat Boorman übrigens Takuma, dem Schamanen der Kamaiura, gewidmet: »Der Schamane fragte mich, was ich im Leben mache. Das jemandem zu erklären, der nie einen Film oder eine Fernsehsendung gesehen hat, ist nicht leicht. Also habe ich ihm geschildert, wie wir eine Szene realisieren und dann die nächste, um zum Schluß eine Kette von Illusionen zu erzeugen. 'Stell es dir vor wie einen Traum', habe ich ihm gesagt. Das begriff er und antwortete: 'Dann haben wir also den gleichen Beruf...'«. Boorman macht keinen Hehl daraus, dass er sich selbst, in seiner Funktion als Filmerzähler, mit einem Schamanen vergleicht, ähnlich wie zu »Excalibur«-Zeiten mit Merlin: »Der Filmemacher spielt mit den Charakteren einer Geschichte, die ihm oft genug entgleiten und Dinge tun, die er von ihnen nicht erwartete. Er muss dieselbe Einstellung zu Geschichte und Personen haben wie »Merlin» in seiner Legende. Auch der Regisseur braucht gleichsam magische Fähigkeiten, um einen Film zu machen... Ich glaube, dass Film uns der verlorenen Magie wieder nahebringen kann. Weil er so sehr der Idee des Träumens und der Vorstellung von Mythos entspricht, ist Film ein ausgezeichnetes Transportmittel, diese Gedanken zu verbreiten und zu vermitteln.«