Kalla Malla
Marc Stevens (Laurent Lucas) ist ein gutaussehender junger Sänger, der sich sein Geld durch Auftritte in Altersheimen und ähnlichen Einrichtungen verdient. Nachdem er wieder einmal eine zufriedenstellende Performance hingelegt hat, fährt Marc im Anschluss geradewegs zu seinem nächsten Auftritt. Blöd nur, dass er dabei ein hinterwäldlerisches Niemandsland durchfahren muss und ausgerechnet weit fernab jeglicher Hilfe eine Autopanne hat. Plötzlich taucht ein allem Anschein nach geistig verwirrter Mann namens Boris (Jean-Luc Couchard) wie aus dem Nichts auf und meint, auf der verzweifelten Suche nach seiner Hündin zu sein.
Nachdem er von seiner Panne berichtet hat, wird Marc zu der nahegelegenen Herberge von Bartel (Jackie Berroyer) gebracht, welche allerdings seit einiger Zeit nicht mehr betrieben wird. Bartel erklärt sich dennoch sofort bereit, den Fremden aufzunehmen. Trotz dieser Gastfreundschaft wird Marc sehr schnell klar, dass etwas mit Bartel nicht stimmt, warnt dieser ihn doch, sich auf garkeinen Fall dem nächstgelegenen Dorf zu nähern. Ebenso fällt Marc auf, dass Bartel unablässig von seiner Frau redet, von der er vor einiger Zeit verlassen wurde. Zwar ist Marc die Sache nicht ganz geheuer, doch er denkt sich nichts weiter dabei. Das soll sich als Fehler herausstellen, denn er hat keine Ahnung, dass Bartel gar nicht daran denkt, ihn wieder gehen zu lassen...
Dass dem Horrorfilm längst die besten Ideen ausgegangen sind, ist heute kein Geheimnis mehr und so beginnt mal als Fan dieser Filmgattung schon gerne mal, sich eine Inhaltsangabe lieber zwei, oder dreimal durchzulesen, bevor man Gefahr läuft, sich wieder einmal einen billigen Abklatsch eines kultigen Originals in sein Regal zu stellen. Im Falle von "Calvaire" ist der erste Eindruck durchaus, dass man es hier nur wieder mit einem langweiligen und typischen Backwood-Filmchen zu tun hat. Ganz in der Tradition von "Texas Chainsaw Massacre" verirren sich in dieser Unterkategorie des Horrorgenres immer irgendwelche Leute in einem verlassenen Landstück, um dort von degenerierten Familien oder gar Mutanten grausam getötet zu werden. Ein anderes Beispiel, das genau diesen Konventionen folgt, ist "Wrong Turn", dem es 2003 gelang, die Kinokassen ganz ordentlich klingeln zu lassen und so den Backwood-Horror wieder massenkompitabel zu machen. Und auch, wenn "Calvaire" zuerst den Anschein erweckt, als wäre er nur ein erneuter, lauwarmer Aufguss der Thematik, so verbirgt sich hinter dem Ganzen doch wesentlich mehr.
Fabrice du Welz' dritte Regiearbeit fängt wie ein typischer US-Genrefilm an, doch das sollte nicht wundern, schließlich braucht eine derartige Story immer etwas Zeit, um an Fahrt zu gewinnen. Unser Hauptprotagonist, Marc Stevens, ist in diesem Fall ein Kerl, dem die Frauenherzen regelmäßig zu Füßen liegen und der sich seine "Groupies" nach Belieben wählen könnte. Blöd nur, dass seine Fans alle schon jenseits der 60 sind, und Marc deren Anträge eher Gänsehaut bereiten, als dass sie ihn freudig stimmen würden. Der charismatische Sänger hat kurz darauf eine Autopanne, erhält Hilfe von zwei Sonderlingen und verstrickt sich immer weiter in einer bedrohlicheren Situation. So weit so gut, bislang nichts, was man nicht kennen würde, doch zu diesem Zeitpunkt kann man auch erst schlecht erahnen, dass sich "Calvaire" noch zu einem wirklich kranken Perversionsmarathon entwickeln wird.
Die Situation in Bartel's Haus spitzt sich mehr und mehr zu, da man weiß, dass hier etwas ganz und gar nicht geheuer vor sich geht. Als Marc dann auch noch gegen Bartel's Ratschlag die nahegelene Stadt erkundet und einige Männer beobachten kann, die um einen anderen herumstehen, der Sex mit einem Schwein hat, wird endgültig klar, auf was das Ganze hinausläuft. Im Gegensatz zu "Wrong Turn" geht die Gefahr hier jedoch nicht von mutierten Freaks aus, sondern vielmehr von psychisch gestörten, normalen Menschen, was "Calvaire" weitaus glaubwürdiger und bodenständiger als viele seiner Genrekollegen macht. Es wird auch zuerst nicht klar, wieso Marc in seine ungünstige Situation gerät, und als die Erklärung folgt, traut man Augen und Ohren kaum. Bartel hält Marc ernsthaft für seine vor einiger Zeit davongelaufene Frau und denkt nun nicht daran, sie noch einmal gehen zu lassen. Keine Angst, ich nehme hier nicht zu viel von der Handlung vorweg, da dieses Detail schon sehr schnell in dem Streifen geklärt wird und nicht erst gegen Ende. Nicht nur Bartel, sondern auch die anderen Dorfbewohner scheinen der Überzeugung zu sein, dass es sich bei dem Sänger um die Frau des Herbergenbesitzers handelt.
Der Wahnsinn, den Marc dabei ertragen muss, wird in "Calvaire" nicht auf der blutigen Ebene, sondern vielmehr auf psychologischer Basis geschildert. "Calvaire" lässt einen ziemlich tief in die umnebelten Hirne richtig kranker Menschen blicken, auch wenn, genretypisch, nie ganz erklärt wird, wieso die Dorfbewohner sich so verhalten. Es sind eben sexuell frustrierte Hinterwäldler, denen jeder Umgang mit anderen Menschen fehlt, das muss in diesem Fall als Erklärung genügen. Fabrice Du Welz gibt sich sehr viel Mühe, die Dorfbewohner richtig geisteskrank darzustellen, was ihm auch wunderbar gelingt. Egal ob die "Hure" Marc der Reihe nach von einigen Männern zur Bestrafung vergewaltigt, oder gar gekreuzigt wird, ein beachtlicher Ideenreichtum des Regisseurs ist nicht zu leugnen. Das Highlight des Films aber ist eine Szene in der Dorfkneipe, in der die Irren Hinterwäldler zu verstörender, durch Mark und Bein gehender Klaviermusik einen derart unheimlichen Tanz hinlegen, dass man sich sofort an eine Beschwörungszeremonie der Gottheit des Wahnsinns erinnert fühlt.
"Calvaire" präsentiert sich in kühlen, tristen aber modernen und überhaupt nicht billig wirkenden Bildern, genau, wie dies auch schon bei "High Tension" der Fall war. Der Vergleich zwischen den beiden Werken hinkt dennoch etwas, und zwar weil "Calvaire - Tortur des Wahnsinns" niemals den Spannungsgrad von Alexandre Aja's Überraschungserfolg erreichen kann. Was wir hier haben verdient weder die Bezeichnung Horrorfilm noch Thriller, es ist vielmehr ein ganz und gar verrückter Sicko, der einen im ersten Moment nicht mehr loslässt und auf psychischer Ebene bestens funktioniert. Dennoch fällt einem beim Schauen auf, dass ein bisschen mehr Spannung oder Blut definitiv nicht verkehrt gewesen wäre. So verstörend das Ganze sein mag, ein richtiges Mitfiebern mit Marc stellt sich nie so richtig ein.
An den Schauspielerleistungen ist hierbei nichts auszusetzen. Laurent Lucas gibt einen glaubhaften, bemittleidenswerten Marc Stevens und Jackie Berroyer in der Rolle des Bartel ist ein einziger Genuß. Nicht jeder Akteur ist in der Lage, einen Psychophaten derart glaubhaft rüberzubringen. In einer weiteren Rolle ist übigens kein geringerer als Philippe Nahon zu sehen, der einigen sicherlich durch seine Mitwirkung in Filmen wie "Menschenfeind", "Irreversible" oder dem hier schon oft genannten "High Tension" ein Begriff sein dürfte.
Fazit: "Calvaire" ist ein kleines, perverses und verstörendes Filmchen, das so manchem Mainstream-Horrorfilmfan sicherlich eine Spur zu viel des Guten sein dürfte. So sick und abgefahren das Ganze auch ist, letzten Endes muss man leider feststellen, dass die Spannung bei alledem etwas zu kurz gekommen ist, ebenso wie die blutigen Szenen, die aber nicht unbedingt von Nöten waren. So ist "Calvaire" zwar ein Machwerk, das man nicht mehr so schnell vergessen wird, das aber durchaus noch besser hätte sein können, wenn der Regisseur einige Spannungsmomente mehr eingestreut hätte.