Kalla Malla
Seit einem tragischen Autounfall, den sie als einzige überlebt hat, ist die junge Organistin Mary Henry (Candace Hilligoss) nicht mehr dieselbe. Von schrecklichen Erinnerungen geplagt flieht sie in eine andere Stadt. Aber auch hier findet sie keinen Frieden. Menschen sehen oder hören sie nicht, und geisterhafte Schattenmenschen (darunter Regisseur Harvey mit furchterregendem Makeup) verfolgen sie. Ein ausgedienter, verfallener Ballsaal am Ufer des Sees übt auf Mary eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus. Dort scheint die Heimstatt der toten Seelen zu sein, die Mary zu sich ins Schattenreich rufen. Einem Arzt, der ihr helfen will, erzählt sie, dass sie sich noch nie sehr für die Geschicke anderer interessiert habe. Auch für die Avancen eines Schürzenjägers interessiert sie sich nicht, obgleich sie sich in ihrer Not nach anderen Menschen und ihrem Schutz sehnt; aber es ist niemand da, der sie versteht. Von ihren Mitmenschen wird Mary für hysterisch gehalten. Aber sie selbst weiß nur zu gut, dass es vor den Untoten kein Entkommen gibt. Am Ende kann sie den Toten, die sie von allen Seiten verfolgen, nicht mehr entrinnen.
»Carnival of Souls« (dt. Titel: »Tanz der toten Seelen«) aus dem Jahr 1962 gehört zu meinen Lieblings-Horror-Klassikern und besitzt einen fast legendären Kultstatus. Mit einem minimalen Budget von nur 17.000 Dollar und einer Drehzeit von nur drei Wochen hat Regisseur Herk Harvey diese wunderbare, schmerzliche Elegie über den Tod in seinem Heimatstaat Utah und in Kansas hergestellt. Er drehte ausschließlich an Originalschauplätzen, teilweise mit Laiendarstellern (bzw. authentischen Einwohnern des Städtchens). Der überwiegende Teil des Films ist stumm, da die Geschichte konsequent aus der Sicht seiner Heldin geschildert wird, die kaum Kontakt zu ihrer Umwelt findet.
Die Mischung aus dokumentarischem Charakter und gleichzeitiger Atmosphäre von Fantasie, Traum und Illusion (befinden wir uns in einem Alptraum der Hauptdarstellerin, oder ist sie selbst der Geist, den niemand wahrnehmen kann?) ist dermaßen faszinierend, dass der Film auch beim x-ten Sehen begeistert. Surreale Sequenzen, etwa wenn sich aus dem Nichts zwei Hände auf die von Mary während des Orgelspiels legen, oder ein bizarrer Tanz der Schattenwesen in einem verlassenen Vergnügungspark-Pavillon vor der Stadt, bleiben für immer im Gedächtnis. Herk Harvey spielt virtuos mit Urängsten der Zuschauer (Identitätsverlust, Todes-Sehnsucht).
Der extreme Low Budget-Charakter dürfte Fans des modernen Effekte-Kinos eher abschrecken, aber wer ein Faible für wahrhaft erschreckende Alptraum-Symphonien in Schwarzweiß hat, dem kann ich diesen wahnsinnigen Film, der lange als verschollen galt, nur wärmstens ans Herz legen. »Carnival of Souls« ist übrigens »Public Domain«, d.h. es gibt keinen Rechte-Inhaber, weswegen er von jedem beliebigen Vertrieb herausgebracht werden kann und auch komplett im Netz herunterladbar ist, absolut legal, aber zumeist in schlimmer Qualität.
Regisseur Herk Harvey, der eigentlich Regisseur für Schulfilme war, drehte »Carnival of Souls« innerhalb von zwei Wochen während eines Urlaubs. Damals wurden selbst Passanten für kleine Auftritte eingesetzt, die einfach kurz vorm Dreh gefragt wurden, ob sie gerade aushelfen könnten. Danach drehte Harvey nie wieder einen Spielfilm. Leider, hatte er doch mit seinem ersten und letzten Werk gleich mal einen Klassiker abgeliefert, der aufgrund seiner außerordentlichen Reputation die Zeit überdauert hat. Harvey verzichtet darauf alles logisch und nachvollziehbar zu erklären, eine inszenatorische Qualität wie man sie sonst fast nur noch von David Lynch kennt. Doch nicht nur Lynch wurde von diesem Ausnahmestreifen inspiriert, auch George A. Romero mit seinem Untoten-Zyklus »Night-Dawn-Day« verdankt diesem Film sehr viel.
»Tanz der toten Seelen« wurde mit den einfachsten Mitteln erzählt, die jedoch höchst effektiv sind. Wohltuend ist der Verzicht auf viele Dialoge, kommt die Handlung doch mit wenig aus. Statt dessen herrscht Stille vor oder nur eine Untermalung durch Orgelmusik. Interessant ist im »Sounddesign« das Ausblenden aller Umwelt- und Geräusche, was eine seltsame Stimmung erzeugt. Das Erzähltempo ist zwar sehr verhalten, aber man muss sich auf den Film und seine Erzählweise einlassen können, um seine Qualitäten zu würdigen. Dazu kommt auch der Umstand, dass der Film ohne graphische Effekte, ohne Blut und Gedärme oder billige Kirmesschockszenen auskommt.
Der Film existiert in verschiedenen Schnittfassungen, deren Länge zwischen 78 und 84 Minuten variiert. Er wurde in nur drei Wochen (manche Quellen sprechen auch von nur neun Tagen) in Lawrence und Salt Lake City gedreht. Die Hauptdarstellerin Candace Hilligoss hatte eine Ausbildung bei Lee Strasberg, die übrigen Darsteller waren größtenteils Amateure. Der Film enthält eine Reihe von Anschlussfehlern, die gemeinhin auf Harveys nicht vorhandene Erfahrung im Spielfilmbereich zurückgeführt werden. Bei einem Aufenthalt in Salt Lake City war der Regisseur von der Stimmung in dem dortigen verlassenen Saltair-Pavillon so beeindruckt, dass er zusammen mit John Clifford das Konzept zu einem Film auf der Geschichte von Ambrose Bierce entwickelte.
Das rege Interesse an der DVD-Veröffentlichung erlebte der 1996 an Krebs verstorbene Regisseur nicht mehr. Das Budget des Films betrug lediglich 33.000 US-Dollar, nach anderen Angaben sogar nur 17.000 US-Dollar. Herk Harvey und John Clifford verzichteten auf ihre Gage, um das Budget einhalten zu können. Für den Schaden an der Brücke der Eingangssequenz musste Harvey 17 US-Dollar bezahlen. Wahrscheinlich wurde Harvey durch zwei Episoden von Rod Serlings Twilight Zone zu Aspekten des Filmes inspiriert: In »The Hitch-Hiker« (Januar 1961) fährt ein junges blondes Mädchen von New York nach Kalifornien und wird von einem Anhalter verfolgt, der ständig wieder auftaucht, wenn sie ihn abgehängt wähnt. In »Mirror Image« (Februar 1961) geht es ebenfalls um ein blondes Mädchen, das überzeugt davon ist, dass eine Doppelgängerin aus dem Spiegel einer Busstation ihre Fahrkarte, ihr Gepäck und schließlich ihre gesamte Identität stiehlt.
Fazit: Gespenstisches Kleinod, das trotz Minibudget, einem unerfahrenen Cast und Crew einen riesigen Dinosaurierfußabdruck in der Horrorfilmgeschichte hinterlassen hat. Freunde niveauvoller Grusel-Kost kommen eigentlich nicht an diesem Werk vorbei und dürften hier voll auf ihre Kosten kommen.