Kalla Malla
Sie nennen ihre Boote nach Jugendträumen und treffen sich jeden Abend mit den alten Freunden in der selben alten Kneipe auf ein paar Runden Billard und Bier. Für die Fischer an der südlichen Goldküste von Texas rund um Aransas Pass, die »Shrimp Capital of Texas«, hat sich das Leben in den vergangenen 30 Jahren kaum verändert. Man ist selbstbewußt, patriotisch, fühlt sich wie der Fischer Shang (Ed Harris) als Elite des Dixie-Landes in der Tradition tapferer Männer wie Bill Travis, Davy Crockett oder Jim Bowie, die 150 Jahre zuvor im Kampf für die Freiheit von Texas gegen fremde Invasoren bei El Alamo starben.
In Port Alamo, Louis Malles Film-Stadt am Golf von Mexiko, besteht das Leben der Fischer vor allem aus harter Arbeit und ein bisschen Freizeitvergnügen, das ja nur ein unverbesserlich törichter Europäer als dumpf oder schal empfinden kann. Tagsüber fahren die Männer aufs Meer und fangen die würzigen Texas Shrimps für die Touristen in den schicken Lokalen von Corpus Christi und den neuen Seebädern im Süden. Vom Erlös leisten sie sich Bier und Billard, sofern sie davon nicht ihre Einfamilienhäuser nebst Vorgarten und Plastik-Pool für die Kinder abzahlen oder ihre Boote unterhalten.
Louis Malle ist zwar Europäer, doch keineswegs töricht. Und er lebt lange genug in den USA, um weder unverbesserlicher Pessimist, noch arroganter Sozialkritiker zu sein. Aber er weigert sich auch erfolgreich, sich als amerikanischer Patriot zu verkaufen. Mit »Dallas« oder dem »Denver Clan«, auch mit hehren Heimatschnulzen wie »Country« oder »Places in the Heart« hat sein Amerika-Bild so wenig gemein wie der neue deutsche Film mit dem Alltag in Deutschland. Malles amerikanische Filme sind Episoden aus und über einen US-Alltag, der im Fernsehen gar nicht und selbst in vor aktuellen Themen selten versagenden Hollywood-Kinos allenfalls als Oberflächenspiegelung vorkommt. Sein Amerika ist das Amerika der kleinen Leute, seien es die kessen Huren von »Pretty Baby«, die alternden Zocker und verhinderten Ganoven aus »Atlantic City« oder die Arbeitslosen und Gestrandeten aus »Crackers«. Der Franzose, mit »Fahrstuhl zum Schaffott« einst Begründer der »Nouvelle vague«, ist ihr Sympathisant und Chronist zugleich - zu aufrichtig fasziniert von seiner neuen Heimat, um sie als pure Kulisse für einen europäischen Film zu gebrauchen, zu integer, um sich für ein Amerika-Klischee im Sinne der Amerikaner herzugeben. Wenn ihm daher die einem wachsenden Hurra-Patriotismus verpflichtete US-Presse vorwirft, er zeichne in seinem neuen Film »Alamo Bay« Klischeebilder, so bedeutet das weiter nichts, als daß es in den USA derzeit nicht opportun ist, amerikanische Wirklichkeit quasi im Vergrösserungsspiegel zu zeigen.
Mit Opportunismus indes ließen sich Malles unvoreingenommene atmosphärische Amerika-Bilder ebenso wenig erzeugen wie der kongeniale Soundtrack des Gitarristen Ry Cooder, ebenfalls ein vorurteilsloser Archivar und musikalischer Chronist des Amerikas der kleinen Leute, von denen auch »Alamo Bay« handelt. Purer Realismus war kaum Malles Absicht, aber einmal mehr verblüfft er damit, wie er in »Alamo Bay« die Wirklichkeit dramatisch verdichtet. Aus dem historischen Ereignis wird eine politische Allegorie. Nach der melodramatischen Gaunerkomödie »Atlantic City« und der humanistischen Proleten-Klamotte »Crackers« bedient er sich diesmal der Strukturen des Western, um zu zeigen, wie trübe und pervertiert der amerikanische Traum geworden ist. Wie aus dem Patriotismus der Kämpfer von El Alamo die rassistische Verblendung von Port Alamo wurde, wo, anders als im Texas eines John Wayne und Gary しooper, Fremde nicht mehr in der Stadt willkommen sind. Toleranz und Gastfreundschaft, einst die Grundlagen von Amerikas Stärke und Reichtum, sind unter den um ihren bescheidenen Wohlstand fürchtenden Fischern der Golfküste einer Bunkermentalität gewichen, die sie nach jedem treten läßt, der ebenfalls einen Anteil am amerikanischen Traum haben möchte. Der freilich ist zum Teilen längst zu armselig und überdies mit Krediten belastet. Wie das Boot des Fischers Shang, obwohl hoffnungsvoll zum »American Dream Girl« getauft.
Der Fremde in der Stadt heißt Dinh (Ho Nguyen) und kommt aus einem Land, das Shang und seine alten Schulfreunde, die »Nam Vets of Texas« (so steht es stolz auf ihren T-Shirts) im Namen der Freiheit und des amerikanischen Traums ruiniert haben. Wie er, liessen sich Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre Zehntausende Flüchtlinge aus Vietnam an der texanischen Golfküste nieder, eckten aus Unkenntnis der Gesetze bei den auf »amerikanische« Wählerstimmen angewiesenen Behörden an und drückten als Billiglohnarbeiter das Einkommen der Fischer, die ohnehin unter wirtschaftlicher Rezession, plötzlich gestiegenen Kreditkosten, zunehmender Umweltverschmutzung und damit zusammenhängenden Einbussen beim Fang der texanischen Krabben litten. Die alteingesessenen Amerikaner wehrten sich nach schlechter Väter Art: Zwischen Aransas Pass und Corpus Christi spukte wieder der Ku-Klux-Clan, Boote und Hütten der Vietnamesen brannten, bis schließlich ein vietnamesischer Fischer in Notwehr einen amerikanischen Konkurrenten tötete und die Bundesbehörden eingriffen.
»Alamo Bay« bezieht sich unmittelbar auf die Ereignisse des Jahres 1980. Doch statt eines Dokumentarfilms hat der in der Wahl seiner Stilmittel, nie aber in der Gesinnung unberechenbare Malle eine Studie in Neorealismus gemacht, in der es um Neid und Missgunst, Ehrgeiz und Borniertheit, verschmähte Liebe und grosse Lust geht. Gewalt und Leidenschaft - aber so erstaunlich ökonomisch in Szene gesetzt, als hätte der Regisseur von vorneherein gewusst, dass damit in Amerika kein Geld zu verdienen sein würde.
Antiamerikanisch ist er deswegen so wenig, wie Michael Cimino mit »Im Jahr des Drachen« zum Rassisten geworden ist. Malles Kino ist viel zu intelligent, um sich mit Schwarzweißmalerei zu begnügen. Eindringlich und nicht ohne Sympathie für die Figur, zeigt er, woraus sich der Frust von Ed Harris' aufrechtem, mit viel Machismo und wenig Verstand ausgestatteten Fischer Shang (stellvertretend für alle Feierabend-Vigilanten in Port Alamo) nährt. Sein Teenagertraum starb mit Vietnam; als er zurückkam hatte die Krabbenhändlertochter Glory (Amy Madigan) die Stadt verlassen. Er schwängerte ungewollt eine andere, die sich in der Folgezeit als weitaus fruchtbarer erwies denn die Fanggründe vor Texas. Statt der Teenage-Prinzessin eine keifende Schlampe mit Lockenwicklerkrone, bis über beide Ohren verschuldet - als ihm die vorübergehend in die Stadt zurückgekehrte Glory auch noch den Laufpass gibt und die Bank sein »American Dream Girl« pfändet, wird aus dem schwelenden Missmut über die Vietnamesen offener Hass.
Zumal die Neuankömmlinge im gelobten Land alte amerikanische Tugenden zuhauf vorweisen und von einer - da hat Malle in voller Absicht idealisiert - Zuversicht in Amerika erfüllt sind wie einst die Pilgerväter und Pioniere. Intakte Familienbande, Mut, die nötige Portion Sturheit, Ehrgeiz, Fleiss, Gottesfurcht und stets ein sauberes Hemd zeichnen Ho Nguyens Dinh aus. Als er sich noch einen Stetson zulegt, nennt ihn Glory den »letzten Cowwboy von Texas«.
Auch sei sie eine Figur wie aus einem Film von John Ford. Amy Madigan, der weibliche Söldner aus Walter Hills »Straßen in Flammen«, präsentiert diese Glory als braven Soldaten, der in der Vergangenheit ein bisschen in der Umgebung herumgekommen ist und dabei den Blick für die Bigotterie und Borniertheit im Heimat-Geschäft hat. In »Alamo Bay« ist diese Glory Mittlerin zwischen den rivalisierenden Gruppen, den Gegenspielern Shang (mit dem sie eine Liebesszene von atemberaubender Kinowirkung erlebt) und Dinh, in pubertärem Wunschdenken gefangen der erste, vom vermeintlichen amerikanischen Traum geblendet der letztere. Doch anders als im Western muss Malles Heroine am Ende nicht unter die Haube, sondern erweist sich als einzig wirklicher Mann in einer Welt von Männern, die beharrlich ihren Jugendträumen nachhängen, unfähig, zu begreifen, dass es Illusionen sind und Paradiese nur im Märchen vorkommen.
Auch in Amerika, so sagt Malles »Alamo Bay« liegt dieses Paradies nicht mehr. Das aber will Amerika eben so wenig wahrhaben wie der Fischer Shang. Statt die Flausen aufzugeben und sich mit der Realität - sprich den geschrumpften Resourcen - auseinanderzusetzen, protzt die westliche Supermacht mit einem Reichtum auf Pump und wundert sich, wenn noch Ärmere ihren Anteil daran fordern. Insofern ist »Alamo Bay« auch ein Lehrspiel über den Nord-Süd-Konflikt. Möglicherweise haben die Amerikaner doch erkannt, wie perfide Louis Malle hier mit amerikanischen Ikonen und den Stilmitteln des amerikanischsten aller Kinogenres umgeht, wie trickreich er seine Allegorie über unvergorenen Patriotismus und pubertären Größenwahn als kleine Geschichte aus der amerikanischen Provinz erzählt. Eine Stadt werden sie nicht nach ihm nennen.