Bloody Jörg
Stell dir vor, du bist ein abgehalftertes Universal-Monster und taumelst durch das Jahr 1956. Du fühlst dich inzwischen völlig deines Lebenssinnes beraubt. Damals, auf der High School, beim Abschluss 1931, da warst du noch der King. Du erinnerst dich mit einem schelmischen Grinsen, wie du deinen Chemielehrer Dr. Jekyll mit Phiolen beworfen hast. Der wurde ganz rot vor Wut, mit pulsierenden Venen und so. Und Mann, war Frankensteins Monster sauer, als du ihm die Braut ausgespannt hast…
Jetzt bist du ein alter Sack und von den glorreichen Zeiten ist nicht mehr viel übrig. Die Leute stehen inzwischen auf Aliens, du hingegen bist bei dem jungen Publikum völlig abgemeldet. Kein Wunder, deine Tentakel hängen bereits schlaff runter, dein Pelz hat kahle Stellen und neulich ist dir doch glatt ein Reißzahn ausgefallen. Gerade im Moment bist du damit beschäftigt, vor dem Spiegel den One-Liner aufzusagen, der dich zur Legende hat werden lassen („Roaar! Roooaaaaaarrr!“ – hach, ein Klassiker), da ruft dich plötzlich der alte Reggie aus der High School an. Ein Klassentreffen organisiere er, und es wäre so toll, wenn du teilnehmen könntest.
Klar, denkst du dir, schadet ja nicht zu sehen, dass die anderen auch auf dem Zahnfleisch kriechen. Du fragst also, wo die ganze Nummer laufen soll, und Reggie sagt, Dr. Thosti stellt seine Schreckenskammer bereit. Soso, der alte Toastie. Ist früher ständig mit einem Deerstalker auf dem Kopf herumgelaufen und hat mit deduktiven Schlussfolgerungen Kriminalfälle gelöst. Hatte immer so ‘nen naiven Dicken mit Schnäuzer im Schlepptau. Inzwischen hat Toastie ein bizarres Faible für Gehirne entwickelt. Was ist das bloß mit diesen 50ern und der Faszination für Gehirne? Alle Welt versucht Probleme inzwischen zu lösen, indem sie das Denkzentrum mit dem Skalpell bearbeitet. Als wäre dieses rosa gefurchte Ding der ultimative Schlüssel zur Weisheit. Die verrückten Wissenschaftler sind ihren Türmen entstiegen und in die Zivilisation eingekehrt. Man erachtet sie glattweg als normal, sogar hilfreich, und projiziert die eigenen Ängste eher auf Invasoren aus dem Weltenraum. Ein wehrloser Insasse in einem Sanatorium möchte man in diesen Zeiten nicht sein…
Toasties Lebensstil hat sich nicht der Moderne angepasst, wie du feststellst, als du bei ihm eintriffst. Er wohnt in einem Filmstudio in Kalifornien, das aufgemacht ist wie das London im 19. Jahrhundert. Der Kerl lebt offenbar immer noch seinen Jugendtraum von verrückten Experimenten in abgeschiedenen Festungen. Die Fassade seines Anwesens ist ein großes Matte Painting. Hübsch gemalt, denkst du dir, bevor du an die Tür klopfst. Und wer öffnet die Tür? Der stolze Dracula, verkleidet wie ein Lakai, den Blick traurig auf den Boden gesenkt. Reggie muss ihm verboten haben, zu sprechen, denn der einstmals so redselige, theatralisch gestikulierende Graf gibt keinen Mux von sich. Ein trauriges Bild, aber du bist augenblicklich froh, dass du nicht der einzige Versager auf der Party bist. Als du deinen Blick durch die Empfangshalle schweifen lässt, kommt es sogar noch besser: Der Wolfsmensch humpelt in gebückter Haltung durch die Gänge und scheint seinen Verstand völlig verloren zu haben. Er sabbelt wirres Zeug und greift ständig vorbeilaufende Gäste an. Mein Gott, Toastie, was hast du da bloß versammelt? Auffällig auch, dass sich Wolfi und die Fledermaus über den gesamten Abend aus dem Weg gehen. Kein Wunder, die konnten sich damals in der High School schon nicht riechen… Schade, dass Mr. C offenbar nicht eingeladen wurde. Der alte Angeber hätte sicher wieder seine unglaublichen Geschichten zum Besten gegeben und die Stimmung gehoben. Ob es wohl zumindest der Unsichtbare geschafft hat? Zumindest kannst du ihn nirgendwo sehen…
Der Hausherr nähert sich, um dich zu begrüßen. Der Kerl mag irre sein, macht aber von allen Anwesenden noch am ehesten den Eindruck, bei klarem Verstand zu sein. Die intelligent funkelnden Augen verraten zumindest einen wachen Geist. Du fragst ihn gleich mal, was es zu trinken gibt. Er bietet dir „The Black Sleep“ an. Du fragst, was, The Big Sleep? Du hast Bogart vor Augen, wie er unter Low-Key-Beleuchtung seinen Whiskey schwenkt. Nope, zu geschmackvoll; das wäre eindeutig über dem Niveau dieser Party hier. Nein, korrigiert auch Toastie, als hätte er deine Gedanken gelesen. The Black Sleep. Das Zeug soll Julia wohl mal in einen derart komatösen Zustand versetzt haben, dass ihr Trottel von Freund sie für tot hielt und sich umgehend selbst umbrachte. Toastie, inzwischen Chirurg von Beruf, erklärt dir, er habe Ramsay dahinten in der Ecke mit dem Zeug aus der Todeszelle geschmuggelt, nur damit er heute Abend dabei sein kann. Erwartungsfreudig grinst er dich an, wackelt mit den Augenbrauen und hebt die Karaffe, bereit zum Einschenken. Du zuckst mit den Schultern und hältst ihm dein Glas hin.
Mann, haut das Zeug rein. Wo ist die Toilette, fragst du den Gastgeber, der inzwischen bereits am offenen Schädel eines Gastes herumdoktert und völlig eingenommen von den Schnörkeln der pulsierenden Masse unter der Hirnhaut zu sein scheint. Ramsay assistiert ihm, unsicher, ob er die Versuche seines Herrn moralisch dulden kann, aber nur allzu dankbar, noch am Leben zu sein. So dankbar gar, dass er, obwohl er aufgrund seiner spektakulären Rettung eigentlich Ehrengast sein müsste, die ganze Zeit über blass in einer Ecke herumlungert und außer ein paar wissenschaftlichen Thesen nichts Sinnvolles zum Party-Talk beizutragen weiß. Ohne seinen Blick vom geöffneten Schädel des Patienten zu heben, verweist dich der Doktor in die Katakomben. Du folgst seinem ausgestreckten Zeigefinger zur Erkundung der Lokalitäten. Eins muss man der Behausung ja lassen – sie hat echt viele Räume und Etagen. Kalter Stein, karge Ausstattung, klassische Geheimgänge hinter dem Kamin, alles, was das Herz von Fans viktorianischer Horrorfilme vor Freude hüpfen lässt. Viel Frischluft bekommen die Gäste an diesem Abend nicht zu spüren, fast alles spielt sich innerhalb der Gemäuer ab, aber Reggie hat das alles so ausfüllend in Szene gesetzt, dass man sich nie eingepfercht fühlt wie etwa in einem Kammerspiel. Alleine schon, wie verspielt die Schatten an den kahlen Wänden entlanggleiten und welch wunderbares Spiel aus Aktion und Nachhall sie in Bewegung setzen. Man merkt zwar, dass dem Dekorateur für das Klassentreffen nicht viel Budget zur Verfügung stand, dank optischer Tricks wirkt aber alles opulenter als es in Wirklichkeit ist. Reggie scheint selbst durchaus zufrieden zu sein; den gesamten Abend über hockt er in einem Faltstuhl und betrachtet das Geschehen wie ein Dirigent. Gelegentlich meldet er sich mit dem Ausruf „Action!“. Ob das ein Drink ist?
Du drückst den Mauerstein und die Wand hinter der Feuerstelle fährt zurück. Ob es da runter zur Toilette geht? Übler Gestank weht dir entgegen. Könnte also passen. Irgendjemand grunzt. Na sieh an, die coolen Leute feiern unter sich ihre eigene Underground-Party! Du hast die Gerüchte nicht glauben wollen, dass Dracula in den letzten Jahren viel mit dem enthusiastischen Dilettanten Ed Wood abgehangen haben soll, doch der Beweis humpelt dir tatsächlich gerade in Form des glatzköpfigen Ex-Wrestlers Tor aus einem Verlies entgegen. Er starrt dich mit seinen weißen Augen an, geistlos wimmernd. Dracula hat ihn an Woods Set wohl heimlich im Rucksack mitgehen lassen, jetzt fristet er gemeinsam mit einem Toxic-Avenger-Vorfahren, einer Frau mit Haarausfall und Büschel-Wuchs sowie David Carradines verlottertem Paps ein Kellerdasein. Die Truppe sieht auf dem Gruppenfoto beinahe wie eine unter Verschluss gehaltene frühe Arbeitsfassung der „X-Men“ aus. Kein Wunder, dass Dracula da oben seine Klappe hält; wenn das einer herausfinden würde… Spätestens jetzt bekommt die Veranstaltung eine Anmutung von Best-of-Monster-Classics, wie eine wehleidige Zusammenkunft der vergessenen Urahnen moderner Horrorgestalten. Und wie man Tor so blind ins Leere starren sieht und seine grunzenden Laute wie von einem tätowierten Bullen vernimmt, muss man doch sehr an „Die Rache des Würgers“ denken. Reggie würde es nie zugeben, aber wer weiß, ob er sich nicht bei der Planung des Abends ein wenig an Ed Woods Anekdote um einen durchgeknallten Wissenschaftler und seine Atommonster-Züchtungen orientiert hat, die sich 1955 ereignet haben soll…
In der oberen Etage spielt sich inzwischen ein Familiendrama ab, wie um den Eindruck abzuwenden, hier werden einfach nur zum Selbstzweck verrückte Experimente mit namhaften Altstars zelebriert. Toastie schwingt sich inzwischen trotz seiner verschlossenen Art zum Alleinunterhalter auf. Ihm nimmt man die ganze Bandbreite vom rücksichtslosen Wissenschaftler bis zum liebenden Vater durchaus ab; um so mehr hat man den Eindruck, er bewegt sich durch ein Feld voller Pappaufsteller und Partymuffel. Bemerkenswert, dass mitten im sich anbahnenden Drama der angesehene Akim Tamiroff der Runde einen Besuch als Special Guest abstattet. In seiner Aufmachung als hinterlistiger Zigeuner scheint er sich auf das niedrige Niveau der Runde begeben zu wollen, trifft aber nicht exakt das Klischee, sondern gibt seiner Rolle ein paar raffinierte Extra-Facetten mit auf den Weg. Toastie und er sorgen gemeinsam tatsächlich für ein wenig Stil und Klasse. Du hättest ganz klar erwartet, dass die Nummer hier über kurz oder lang völlig aus dem Ruder läuft, doch das geschieht nur bedingt. Für den Moment amüsierst du dich prächtiger als gedacht, wobei du jede Minute daran erinnert wirst, wie armselig es sein kann, in Nostalgie zu schwelgen. Da hilft schon ein Blick auf den traurigen Livrierten an der Haustür oder den verwirrten Monchichi in den Hausfluren…
Als die Sause irgendwann nach Mitternacht durch ist und du dich hinter das Steuer deines 1951er Studebaker setzt, hast du eine Gehirn-OP miterlebt, einen Haufen Freaks aus dem Kellergewölbe befreit und eine brennende Frau durch die Gänge flitzen sehen. Ein paar Tote und etwas geselligen Smalltalk gab’s auch. Klingt nach einem netten Abend mit ehemaligen Monster-Kommilitonen, oder? Dann machst du das Radio an. Darin berichtet der Moderator nervös von der Sichtung einer haushohen Tarantel irgendwo in der Wüste Arizonas. Und prompt realisierst du wieder, dass inzwischen andere Dinge die Welt bewegen. Es gibt letztlich wenig Bemerkenswertes von diesem Abend zu berichten, außer, dass es so viele von euch zur gleichen Zeit an den gleichen Ort geschafft haben. Manchmal reicht das aber schon.