Kalla Malla
Der Jugendliche Santi (Junio Valverde) leidet unter einer Photophobie, die ihm direkte Lichteinwirkung zur Qual werden lässt. Aus diesem Grund begibt er sich stets nur mit Sonnenbrille und tief ins Gesicht gezogener Kapuze in die Schule, was ihm schnell den Ruf eines Freaks und Außenseiters einbringt. Als sich Santis Zustand in der Großstadt konstant zu verschlechtern scheint, wird seiner Mutter Julia (Mar Sodupe) von einem Arzt ans Herz gelegt, mit Santi in ein abgeschiedenes Bergdörfchen in die Pyrenäen zu ziehen, wo die Sonne nur selten zum Vorschein kommt.
Gesagt, getan, doch scheint sich die Situation in der neuen Umgebung zuerst nur geringfügig zu verbessern. Unheimliches scheint sich in den Wäldern abzuspielen, die sich rings um das Dorf erstrecken, zudem machen die eigenwilligen Dorfbewohner einen alles andere als gastfreundlichen Eindruck. Mit der hübschen, gleichaltrigen Ángela (Blanca Suárez) findet Santi zwar schon bald eine Freundin, doch nicht jeder in dem Dorf ist ihm so herzlich gestimmt. Als der Jugendliche eines Tages mit zwei Klassenkameraden in den Wäldern unterwegs ist, wird einer von ihnen plötzlich von einer scheinbar wilden Bestie angefallen und kurz darauf mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Der Verdacht der Einheimischen fällt natürlich sofort auf den lichtscheuen Außenseiter Santi, um dessen Hals sich die Schlinge noch enger zieht, als wenige Tage später eine weitere Person in seinem Beisein ermordet wird. Während sich die aufgebrachten Dörfler langsam gegen ihn zusammenrotten, setzt Santi alles daran, die Existenz des Monsters nachzuweisen, das tatsächlich für die Bluttaten verantwortlich ist. Dabei stößt er auf ein streng gehütetes und schreckliches Geheimnis, für deren Wahrung einige der Dorfbewohner über Leichen gehen würden...
Der Horrorfilm befindet sich gegenwärtig in einem Stadium, in dem Begriffe wie Innovation und Neuerungen immer mehr in Vergessenheit geraten, wenn sie nicht sogar absichtlich beiseite gekehrt werden. Vor allem die amerikanischen Studios produzieren aktuell so fleißig Remakes und Sequels wie nie zuvor, was den Horrorfilm immer mehr in einen langweiligen, sich ständig wiederholenden Rhythmus versetzt. Doch es gibt Gegenwind. Vor allem die Europäer blühen seit einiger Zeit regelrecht auf, wenn es darum geht, den seelenlosen, amerikanischen Fließbandproduktionen kreative und einfallsreiche Genre-Highlights entgegenzusetzen. Ob nun Großbritannien mit "The Descent", Frankreich mit "Inside" oder auch Spanien mit "[Rec]" - all diese Titel spielen in einer ganz anderen Liga als das, was aus den Vereinigten Staaten allmonatlich in den Videotheken landet und von dort schnellstmöglich in die Vergessenheit wandert. Mit "Shiver" erschien nun letztes Jahr ein beinahe schon klassischer Horrorthriler spanischer Herkunft, der das positive Gesamtbild des europäischen Genrefilms noch einmal dick zu unterstreichen weiß und bis dato noch als eine Art Geheimtipp zu werten ist, denn eine all zu große Aufmerksamkeit blieb diesem Werk bislang verwehrt.
Als regelrecht klassisch für das Horror-Genre ist die Story von "Shiver" schon deshalb zu werten, weil sie sich den aktuellen Trends grundlegend verweigert. Statt mit immer brutaleren Gewaltausuferungen und peinlich banalen Schauwerten das Publikum zu martern, entwarfen die Drehbuchautoren José Gamo, Alejandro Hernández und Isidro Ortiz eine Geschichte, die der Freund des Horrorfilms in ähnlicher Form zwar schon einige Male gesehen haben mag, die hier aber dennoch etwas frisches und unverbrauchtes an sich hat. Die Handlung stellt einen missverstandenen Außenseiter ins Zentrum der Geschichte, der in seiner neuen Heimat plötzlich mit unheimlichen Vorgängen in Verbindung gebracht wird, hinter denen aber weit mehr steckt als nur die Taten eines Psychopathen oder gar eines unheimlichen Wesens. Die Auflösung mag dabei letztendlich zwar irgendwo ersichtlich gewesen sein, ist aber erst ab der ungefähren Hälfte des Films erahnbar, was in der Tat auch als eine ordentliche Leistung betrachtet werden darf.
"Shiver" lässt sich die Zeit, die nötig ist, die Hauptfigur und die Charaktere aus ihrem direkten Umfeld einzuführen und setzt allgemein mehr auf subtilen Grusel als auf direkt ausgelebten, blutrünstigen Horror. Jener hat zwar auch seine vereinzelten Auftritte, dient aber lediglich als Höhepunkt mehrer zuvor akribisch und sorgsam aufgebauter Gruselszenen. Die Bedingungen, die Regisseur Isidro Ortiz ("Somniac") hierfür zur Verfügung standen, hätten besser nicht sein können: Aus dem dichten und sonnendurchfluteten Gewirr der Großstadt Barcelona geht es bald in ein düsteres kleines Dörchen in den Bergen, in dem die Zeit irgendwann in der Mitte des 20. Jahrhunderts stehen geblieben zu sein schien. Neuankömmlingen begegnen die allesamt bewaffneten Bewohner mit Argwohn, doch dieses Misstrauen ist für Santi und seine Mutter noch nicht einmal das größte Übel. Tiere werden in den umliegenden Wäldern, die vielmehr an Urwälder erinnern, gerissen und entweidet aufgefunden, des Nachts ertönen unheimliche Geräusche vom Dachboden des alten Hauses, das von den beiden bezogen wurde. Auf wunderbar atmosphärische Art und Weise verstehen es Regisseur Ortiz und sein Kameramann Josep M. Civit, den Film auf visueller Ebene zu einem Highlight werden zu lassen. Spielfreudige Aufnahmen, wohin das Auge blickt, wunderschöne und zugleich düstere Panoramabilder der ländlichen Umgebung, kreative Szenenabläufe in mal schneller, mal ruhiger Schnittfolge; rein visuell sorgt "Shiver" schon für Unbehagen, lässt Gänsehaut entstehen, nur um im nächsten Moment mit seinen einzigartigen Naturaufnahmen wieder zu beeindrucken.
Einer der Gründe, dass "Shiver" eine absolut dichte und bisweilen auch furchteinflößende Spannung aufzubauen in der Lage ist, mag der sein, dass das Wesen, das für die Morde verantwortlich ist, lange namen- und gesichtslos bleibt. Nächtliche Geräusche künden von der Anwesenheit eines bösartigen Etwas, ein blitzschnelles Huschen durch das Blätterwerk des Waldes lässt nur erahnen, was da auf seine Opfer lauert. Wenn das Wesen schließlich seinen ersten Auftritt im spärlichen Schein einer Taschenlampe hat oder immer wieder ein dunkles Augenwerk aus den dunklen Sträuchern des nächtlichen Waldes herausstarrt, dann sind das Momente, die selbst dem gestandenen Genre-Liebhaber noch eine Gänsehaut bescheren können. "Shiver" gelingt ein exzellentes Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums, das letztendlich nicht enttäuscht werden wird. Was da im Dunkel des Waldes lauert ist weder klischeehaft, noch erahnbar, sondern wurde in dieser Form noch nie in einem Horrorfilm wie diesem verarbeitet. Die Ereignisse wirken letztendlich auch nicht unglaubwürdig oder abgehoben, was "Shiver" eine noch unheimlichere Note verleiht. Die Handlung erweist sich dann im letzten Drittel noch als überaus wendungsreich und zeigt, dass vieles nicht immer so ist, wie es scheint und eben oftmals der Mensch die eigentliche Bestie ist - auch wenn in diesem Fall weder ein trainiertes Tier, noch ein Psychopath für ein massenhaftes Ableben sorgt, sondern etwas gänzlich anderes.
"Shiver" wartet zwar ab und an auch mit recht blutigen und kompromisslosen Szenen auf, nutzt diese aber stets nur zur Vollendung einer zuvor äußerst unheimlichen und atmosphärischen Sequenz, was die Gewalt also nie zum Kern der Geschichte werden lässt. Möchte man dem Streifen aber doch etwas ankreiden, dann ist das die Tatsache, dass die Geschichte beinahe im Minutentakt an Kreativität einbüßt, bis im Finale schließlich nur noch ein unterhaltsames, aber dennoch irgendwo bekanntes Stück Film übrig bleibt. In der ersten halben Stunde ist "Shiver" ein inszenatorisch und inhaltlich brillianter Horrorfilm, der das meiste aus diesem Genre in letzter Zeit mühelos in den Schatten stellt, doch nach und nach verliert die Geschichte leicht an Schrecken, wenn Santi, Angela und der Nerd Leo mit einer Kamera bewaffnet in den Wald gehen, um die Existenz des Monsters nachzuweisen. Auch finden sich die fantastischen visuellen Elemente vorwiegend im ersten Drittel, während in der restlichen Laufzeit großteils konventionelle Arbeit vorherrscht. Dennoch machen diese Tatsachen "Shiver" nicht unbedingt schlechter. Sie verhindern zwar eine Höchstwertung, machen aus dem Werk aber immer noch eine höchst unterhaltsame Thrillfahrt, die das Geschehen mit einem Twist zufriedenstellend abrundet. Die Inszenierung des Films ist sehr zugänglich geraten und könnte genau so gut in vielen anderen europäischen Ländern spielen. Die Darsteller machen ihre Sache sehr überzeugend, allen voran Junio Valverde, der als lichtscheuer Hauptcharakter mit spitzen Eckzähnen tatsächlich an einen Vampir erinnert, seiner Figur aber eine gewisse Tiefe verleiht und die ständige Angst des Jugendlichen glaubhaft rüberbringt. Mar Sodupe verkörpert die aufopfernde Mutter sehr sympathisch während Blanca Suárez in die Rolle der Angela nicht nur ein gutes Aussehen, sondern auch schauspielerisches Talent mitbringt.
Fazit: "Shiver" ist ein schnörkelloser Horrorthriller, wie man ihn sich besser kaum wünschen könnte. Die ansatzweise schon bekannte Geschichte bleibt stets so immens spannend und atmosphärisch, dass man sich nur schwerlich an einen Horrorfilm der letzten Zeit erinnern kann, der das besser hinbekommen hat. Neben der schaurigen Story und den überzeugenden Akteuren bleibt aber vor allem eine technisch brilliante Inszenierung in Erinnerung, die Hollywood die lange Nase zeigt und mit ebenso kreativen wie stimmungsvollen Bildern aufwartet. Nur eine etwas vorhersehbare, zweite Filmhälfte verhindern hier die Höchswertung, ansonsten ist "Shiver" als tatsächliches Highlight des Horror-Genres anzusehen, wovon sich die Fans des Genres natürlich schleunigst selbst überzeugen sollten.