Kalla Malla
Tom Baxter ist nicht mehr zu halten. Als er die melancholische Kellnerin Cecilia zum fünften Mal in seiner Schnulze »The Purple Rose of Cairo« schluchzen sieht, unterbricht der Archäologe seinen albernen Monolog über den Unterschied zwischen ägyptischen Grabhöhlen und den Penthouses von Manhattan und steigt kurzerhand von der Leinwand hinunter in den Kinosaal. Er will Cecilia kennenlernen, hat sich in seinen treuesten Fan verliebt.
Was kümmert es ihn da, daß er Publikum und Kollegen gleichermaßen düpiert. Die einen, weil sie nicht mehr weiter spielen können, die anderen, weil es dann auch nichts mehr zu sehen gibt. Letztere wollen bald ihr Geld zurück, was den Kinobesitzer ebenso verärgert wie den Produzenten, der in den kleinen Ort im Philadelphia der frühen dreißiger Jahre, als Fred Astaire und Ginger Rogers auf dem Vulkan der Depression tanzten, eilt - in Begleitung von Gil Shepard, dem Darsteller Baxters, den es nun im wirklichen Leben gleich zweimal gibt.
Daß das auch die kleine Cecilia verwirrt - zumal sie sich bislang nur mit ihrem arbeitslosen, trunksüchtigen und spielwütigen Mann Monk herumschlagen mußte - nimmt da nicht weiter Wunder. Die Verwirrung ist ohnehin groß - auch beim Publikum, das staunend wahrnehmen muß, wie sich die Grenzen zwischen Kino und Wirklichkeit mit einer frechen Selbstverständlichkeit auflösen, die ahnen läßt, daß Woody Allen in seinem neuen Film so weit gegangen ist wie nie zuvor, ja wie niemand zuvor.
Natürlich geht die Geschichte weiter, natürlich trifft Cecilia beide Männer, natürlich lieben beide sie, natürlich muß sie sich entscheiden - und entscheidet sich, obwohl sie nur im Kino glücklich zu sein scheint, obwohl sie nur ihren eigenen Kummer vergißt, indem sie das vermeintliche Glück ihrer Stars kennt, nicht für die Kinofigur. Das mag die Kenner von »Play It Again, Sam« überraschen. Aber Allan Felix ist reifer geworden und heißt jetzt Cecilia.
Film im Film - ein altes Thema. Ein Thema, an dem kaum ein Regisseur vorbeizukommen scheint. Filme über Filme waren oft Wendepunkte in der Karriere von Regisseuren, Marken, an denen sie sich neu zu orientieren versuchten. Fellini tat das vielleicht am nachdrücklichsten mit »Achteinhalb«, Wenders mit »Der Stand der Dinge« oder Truffaut mit »Die Amerikanische Nacht«. Wilder kam nicht daran vorbei und drehte »Sunset Boulevard«, George Cukor »A Star Is Born« und Peter Bogdanovich, dessen Lieblingsthema sowieso das Kino ist, fing mit »Targets« an und schuf »Nickelodeon« und »The Last Picture Show«.
Die meisten dieser Filme unternehmen den berühmten Blick hinter die Kulissen, gerieten zur - wenn auch oft faszinierenden - Selbstbespiegelung ihrer Regisseure. Das reicht »The Purple Rose Of Cairo« gerade noch für kleine ironische Fußnoten. Wenn er etwa den Produzenten als geldgierigen Geschäftsmann zeichnet oder den Schauspieler als hohlen Berufscharmeur und Partylöwen mit Kaschmirschal und keep smiling. Wenn sich - nach Unterbrechung der Projektion - die Schauspieler eitel über die Bedeutung ihrer jeweiligen Rollen auseinandersetzen. Daß der Regisseur in all diesen Szenen überhaupt keine Rolle zu spielen scheint, ist noch eine aufschlußreiche Randbemerkung über die Bedeutung des »directors« in dieser Phase der Filmgeschichte.
Darüber aber ist Allen seit »Stardust Memories« längst hinaus. In »Zelig« etwa interessierte ihn vielmehr, die Fiktion des Dokumentarischen auf ebenso verblüffende wie komische Weise zu entlarven, und in »Broadway Danny Rose» huldigte er, vielleicht ein wenig oberflächlich, dem unwiderstehlichen Reiz der Nostalgie.
In »The Purple Rose Of Cairo« schließlich verschmilzt das zu einem geradezu philosophischen und dabei immer komischen Diskurs über die Wirkung des Kinos auf seine Zuschauer, die Bedeutung der Fiktion für die Realität, die selbstverständliche Aufhebung des Unterschieds zwischen Leinwand und Wirklichkeit.
Wovon Cineasten von Cocteau bis Alexander Kluge nur träumten, Woody Allen bringt es auf die Leinwand - mit Leichtigkeit, Witz und dem ihm eigenen Charme, den er auch zu versprühen vermag, wenn er - wie diesmal - nicht selber auftaucht. Die Fantasie ist Wirklichkeit geworden. Und das Kino steht Kopf. Plötzlich nehmen die Figuren des Films Anteil am Schicksal der Zuschauer. Das Geschehen im Kinosaal interessiert sie mehr als ihre eigene Geschichte. Sie sind gerührt - und das steht nicht im Drehbuch.
Steven Spielberg und George Lucas haben aus dem Kino ein reiches Märchenbuch gemacht, eine Wundertüte, die jeden Wunsch erfüllt. Special Effects machten sie allmächtig - und bereicherten das Kino nur insofern, als sie alte Themen - vom Abenteuer über den Krimi zur Science Fiction - gigantomanisch variierten.
Woody Allens aufwendigste Technik ist die gute alte Rückprojektion (die einen Dialog zwischen Baxter und seinem Darsteller ermöglicht) und führt dennoch das Kino soweit, wie Chaplin in seinen besten Tagen - mit einer fantastischen Radikalität, die nur die Komödie ermöglicht: Die Figur des Baxter denkt, sagt und tut einzig, was ihre Rolle vorschreibt. Die Leinwand als Horizont. Er wundert sich beim ersten Kuß mit Cecilia über die fehlende Abblende und über die unverheirateten Frauen im Bordell, »so wie Sie gekleidet sind«.
Gerade das erleichtert Cecilia wieder die Entscheidung für den Schauspieler, der sich schließlich auch nur als Produkt erweist, dem die Karriere vor die Gefühle geht. Da sind wir wieder in der Wirklichkeit, beim tyrannischen wie bemitleidenswerten Ehemann, der Arbeitslosigkeit oder dem unbezahlten Job im Fast-Food-Cafe. Wie gut, daß es am Abend Astaire und Finger Rogers im Kino gibt.
»Der verführerische Charme der Fantasie als Gegensatz zur schmerzlichen Härte des wirklichen Lebens ist ein Thema, das regelmäßig in meinem Werk auftaucht. Dessen war ich mir nicht bewußt. Kritiker und Freunde haben mich darauf aufmerksam machen müssen. »The Purple Rose of Cairo« ist offenbar die jüngste meiner Arbeiten, die diesem Gedanken verpflichtet ist. Ich glaube, diesmal habe ich das Thema auf unterhaltsamere Weise behandelt als je zuvor, und wenn Sie gestatten, werde ich Sie in Zukunft auch nicht mehr belästigen«, kokettiert Woody Allen, um der obligatorischen Frage, was nach einem solchen Film eigentlich noch kommen kann, vorzugreifen. Bevor sie gestellt ist, ist die Antwort schon im Kasten. »Hannah And Her Sisters« heißt der nächste Film Allens - und wird wieder eine große Liebeserklärung an Mia Farrow sein, die natürlich auch in »Purple Rose of Cairo« die Hauptrolle spielte. Wir sind auf alles gefasst - aber vielleicht kommt's auch ganz anders.
Fazit: Eigentlich handeln alle seine Filme von ihm selbst. Und doch ist jeder anders. Nach Woody Allens Geniestreich »Zelig« hatte keiner mehr damit gerechnet, daß dem Stadtneurotiker noch etwas besseres einlallen könnte. Mit »The Purple Rose of Cairo« hat er die Skeptiker Lügen gestraft. Die melancholische Geschichte einer reichlich ungewöhnlichen Liebe wurde zu einer faszinierenden Gratwanderung zwischen Kino und Wirklichkeit.