Kalla Malla
Jeanne und Paul Belmehr leiden noch immer sehr unter dem Verlust ihres Sohnes Joshua, der bei der schrecklichen Tsunami-Katastrophe in Thailand verschwand und seitdem für tot erklärt wurde. So kann Jeanne ihren Augen kaum trauen, als sie eines Tages auf einer Benefiz-Veranstaltung ein Video über obdachlose Kinder in Burma sieht und inmitten zahlreicher verwahrloster Jungen und Mädchen ihren kleinen Joshua zu erkennen glaubt. Vollkommen aufgelöst und von dem Gedanken besessen, der Sache nachzugehen, überredet sie Paul in Folge dessen zu einer waghalsigen und sinnlos scheinenden Suche. Von dem undurchschaubaren Thaksin Gao lässt sich das Paar kurz darauf über die Grenze nach Burma schleusen, wo sich ihre Reise durch den Dschungel alsbald zu einer Odyssee des Wahnsinns entwickeln soll. Während Paul angesichts der Sinnlosigkeit ihrer Suche immer gereizter wird, verliert Jeanne zusehends den Bezug zur Realität. Aus den sich auftuenden menschlichen Abgründen scheint es kein Entkommen mehr zu geben...
Nachdem er im Jahr 2004 mit Calvaire einen inhaltlich nicht bahnbrechenden, inszenatorisch aber durchaus eigenständigen Backwood-Terrorfilm ablieferte, sorgt der belgische Regisseur Fabrice Du Welz nun mit seiner zweiten Regiearbeit Vinyan für Nachschub. Hierbei handelt es sich um einen jener speziellen Filme, deren Stimmung in einem Trailer beinahe unmöglich wiedergegeben werden können und so wundert es auch nicht, dass Vinyan sowohl in der Vorschau, als auch von seinem Verleiher als actionreicher Horrorfilm vermarktet wird, der die scheinbare Geschichte eines Paares erzählt, das im Dschungel von einer Horde wilder Kinder tyrannisiert wird. Diese Vorstellung kratzt allerdings nur leicht an der Oberfläche und lässt Vinyan in einem völlig falschen Licht dastehen, was letztendlich für eine irregeleitete Erwartungshaltung seitens vieler Filmfans sorgen wird.
Vinyan in eine bestimmte Schublade zu stecken fällt schon deshalb schwer, da das bildgewaltige Werk mit spielerischer Leichtigkeit jedwede Genre-Konventionen sprengt und sich am ehesten noch als Arthouse-Horror-Drama beschreiben ließe, womit Fabrice Du Welz, der auch das Drehbuch schrieb, unbewusst sicherlich ein neues Genre ins Leben rief. Vinyan erweist sich als eigenwilliges, schwer zugängliches Pychogramm zweier Menschen, die durch eine schreckliche Naturkatastrophe ihr einziges Kind verloren und sich dem Schmerz nun, jeder auf seine Weise, stellen müssen. Vinyan folgt Jeanne und Paul bei ihrer absurd anmutenden Jagd nach einem Phantom, immer tiefer in den burmesischen Dschungel hinein. Vor den malerisch wirkenden Kulissen entwickelt sich das Ganze dann alsbald zu einem wahren Albtraum zwischenmenschlicher Schuldbekenntnisse und Trauer. In zahlreichen Reviews wurde Vinyan nun schon eine Parallele zu Francis Ford Coppola's Apocalypse Now zugesprochen, ein Vergleich, dem der Film aufgrund seiner subtil-beängstigenden Atmosphäre durchaus standhält.
Fabrice Du Welz' Ausflug in den Dschungel und gleichsam in menschliche Abgründe ist sicherlich nichts für Freunde des schnell geschnittenen, gorehaltigen und actionreichen Horrorkinos. Das Grauen liegt hier in den Zwischentönen verborgen und muss von einem toleranten und experimentierfreudigen Publikum langsam ertastet werden. Vinyan ist ein durchaus langsamer Film, der zudem fast ohne Score auskommt und nur dann mit Dialogen aufwartet, wenn diese auch wirklich von Nöten sind. Viele würden diese Form der Inszenierung sicherlich als langatmig bezeichnen, andere wiederum werden in Vinyan eine Koryphäe des Arthouse-Horrors erkennen, doch das ist letztendlich eine absolute Geschmacksfrage. Was feststeht, ist die Tatsache, dass die Bilder des Kameramanns Benoît Debie, der auch schon die Aufnahmen für Irrerversible lieferte, gemeinsam mit der sich immer weiter zuspitzenden Story eine soghafte Wirkung entfalten und einem mystischen Albtraum gleichen, aus dem es für die Protagonisten kein Erwachen zu geben scheint. Wahren, visuellen Horror gibt es dann lediglich in den Schlussminuten zu sehen, was dann aber aufgrund der vorherigen Exposition um so verstörender wirkt. Vinyan legt seinen Fokus keineswegs auf die Zurschaustellung selbstzweckhafter Gewalt, scheut sich aber auch nicht, mit aller drastischer Konsequenz das zu zeigen, was gezeigt werden muss, was dann im Kontext des Films nur noch brutaler erscheint.
Eine große Verantwortung liegt natürlich bei den Hauptdarstellern Emmanuelle Béart und Rufus Sewell, an denen es liegt, den menschlichen Verfall der Protagonisten glaubhaft wiederzugeben. Während die Französin Emmanuelle Béart dieser Aufgabe nachkommt, indem sie sich mit ein- und demselben lethargischen Blick durch den Film hangelt und nur gelegentlich noch etwas mehr Pathos drauflegt, spielt Rufus Sewell schon aktiver auf. Glaubwürdig mimt er den Ehemann, der seine Frau nicht vom Wahnsinn ihres Vorhabens abbringen kann und dessen Verzweiflung irgendwann Resignation und Aggression weicht. Insgesamt bringen beide Schauspieler ihren Part glaubhaft rüber, während auch der sonstige Cast einen positiven Eindruck hinterlässt.
Einen Film wie Vinyan letztendlich in einen wertenden Kontext zu setzen, fällt außerordentlich schwer, da sich ein jeder im Grunde einen eigenen Blick von diesem abgründigen Arthouse-Drama machen sollte. Sicherlich nicht jedem wird sich die Botschaft und das subtile Grauen des Films erschließen, doch wer sich bewusst auf den Film einlässt, bekommt hier ein eindrucksvoll gefilmten, pessimistischen Abstieg in die dunklen Tiefen der menschlichen Trauer zu sehen, garniert mit einigen, schon deutlicheren Horrorfilm-Ansätzen im letzten Drittel. Zwar gelang Fabrice Du Welz mit Vinyan somit durchaus ein Werk, das noch einige Zeit in der Erinnerung verweilen wird, andererseits kann man dem Film eine gewisse Trägheit nicht absprechen. Somit eine vorsichtige Empfehlung an ein aufgeschlossenes Filmpublikum, das auf der Suche nach anspruchsvollerer Horror-Kost abseits der ausgetretenen Standardpfade ist.