Kalla Malla
Die attraktive, ledige Kimberly Prescott (Anne Baxter) lebt zurückgezogen in Spanien in einer Villa am Meer. Chandler Brisson (Alexander Knox), ihr eigener Onkel Chan, gehört zu den wenigen Kontakten, die sie inmitten der idyllischen Landschaft zur Außenwelt unterhält. Eines Abends steht plötzlich ein Fremder (Richard Todd) in ihrem Wohnzimmer und behauptet, ihr leiblicher Bruder Ward Prescott jr. zu sein. Kimberly weist dies als absurd zurück, denn Ward kam vor einem Jahr in Südafrika bei einem Autounfall ums Leben. Doch nicht allein die Papiere des Fremden sondern auch dessen Erinnerungen belegen, dass er mit den Familienverhältnissen der reichen Familie Prescott bis ins Detail vertraut ist. Zudem wird er von allen sofort als Kimberlys Bruder akzeptiert – inklusive ihres eigenen Onkels Chan. Als sich der vermeintliche Ward mit dem Anspruch auf sein Teil des Familienerbes im Haus der Schwester breitmacht und über sie zu bestimmen sucht, fürchtet Kimberly zusehends um ihr Leben und Seelenheil. In ihrer Verzweiflung sucht sie Rat und Unterstützung beim örtlichen Polizeikommissar Vargas (Herbert Lom), dessen Art ihr Vertrauen einflößt…
Wer jemals das Vergnügen hatte, diesen unbekannten, kleinen, aber hochspannenden Thriller im TV-Nachtprogramm zu erwischen, hat ihn wahrscheinlich - genau wie ich - nie vergessen, denn seine Ausgangssituation und die überraschende Auflösung bleiben nachhaltig im Gedächtnis. Bei uns heißt der Film »Flüsternde Schatten«, er wurde 1958 von Michael Anderson im Stile Hitchcocks inszeniert. Natürlich erreicht er nicht ganz die Qualität des großen Meisters, kommt diesem aber sehr nahe.
Die Frage, ob Richard Todd nun besagter Bruder ist oder nicht (und wenn nein, was er will), hält den Film bis zum Schluss in Dauerspannung, so wie seinerzeit Hitchcock die Frage stellte, wohin die englische Dame verschwand, und warum alle behaupten, dass es sie nie gegeben habe. Im weiteren Verlauf entwickelt sich ein klaustrophobisches Kammerspiel, in welchem Anne Baxter mehrfach versucht, den Fremden auszutricksen, der aus dem Kräftemessen aber immer wieder als Sieger hervorgeht, bis sie kurz davor ist, den Verstand zu verlieren. Michael Anderson streut einige gelungene Schockmomente ein und zollt dem Vorbild in mehreren Suspense-Sequenzen seinen Tribut, etwa mit übergroßen Requisiten (zwei Cognacgläser mit Fingerabdrücken) und raffinierter Bildauflösung.
Mit Anne Baxter (»Ich beichte«) und Richard Todd (»Die rote Lola«) besetzte Anderson interessanterweise zwei Darsteller, die schon Hitchcock-Erfahrung besaßen, von diesem aber nicht besonders gemocht wurden. Hier zeigen sie Spitzenleistungen. Todd ist sowohl bedrohlich als auch charmant, Baxter spielt von heiterer Überheblichkeit bis totaler Verzweiflung und Hysterie eine reiche Palette an Emotionen. Das sonnige Setting ist ungewöhnlich attraktiv, unvergesslich bleibt die spanische Gitarrenmusik (Solist: Julian Bream), die das düstere Geschehen begleitet. Mit seinem schattenreichen Schwarzweiß wird der Film im Verlauf zunehmend zu einem Film Noir. In der Hauptrolle spielt bis zuletzt die Ungewissheit. Die Auflösung werde ich natürlich nicht verraten, aber sie ist ebenso unwahrscheinlich wie packend.
Der Stoff wurde übrigens mehrfach verfilmt, u.a. 1984 mit Judy Winter im Fernsehspiel »Der Besuch«.