Kalla Malla
Die jungen und hübschen Amerikanerinnen Lindsay und Jenny wollen etwas von der Welt sehen und entschließen sich aus diesem Grunde zu einer ausgedehnten Reise durch Europa. Ihr zweiter Halt führt die besten Freundinnen dann auch nach Deutschland, wo sich die beiden nach dem obligatorischen Sightseeing allerdings ziemlich schnell recht planlos in ihrem Hotelzimmer wiederfinden. Da kommt ihnen die Einladung eines jungen Kellners zu einer angesagten Party gerade recht, doch auf dem Weg dorthin verfahren sich die beiden noch am selben Abend hoffnungslos und erleiden inmitten eines abgelegenen Waldstücks eine Reifenpanne. Um nicht die ganze Nacht fröstelnd im Wagen verbringen zu müssen, machen sich Lindsay und Jenny daraufhin zu Fuß auf die Suche nach Hilfe und stoßen mitten im Nirgendwo tatsächlich auf ein luxuriöses Haus, welches von dem renommierten Ex-Chirurgen Dr. Heiter bewohnt wird, der die beiden zunächst auch freundlich hereinbittet. Schnell stellt sich jedoch heraus, wie es um dessen "deutsche Gastfreundschaft" wirklich bestellt ist, handelt es sich bei dem vermeintlichen Exzentriker doch um einen ebenso brillianten wie verkommenen Psychopathen, der in den jungen Frauen die optimalen Testpersonen für eine lange gehegte Wahnsinnstat erkennt. Kurzerhand betäubt er die beiden und verlegt sie in seinen privaten OP-Saal im Keller, wo er ihnen alsdann voller Vorfreude den anstehenden Operationsplan vorstellt: Gemeinsam mit einem weiteren Entführungsopfer, einem jungen Japaner, werden Lindsay und Jenny nach dem Eingriff die drei Ketten eines "menschlichen Tausendfüßlers" bilden. Hierzu werden zwei der Patienten unter Narkose je mit dem Mund an den After der vorderen Person genäht, um auf diese Weise eine ganz neue Art der Nahrungskette zu kreieren...
Es gibt ohne Frage nicht genügend Artikulationen des ungläubigen Erstaunens, von denen zweifellos all jene überwältigt werden dürften, die zum ersten Mal mit der Prämisse des Films The Human Centipede (First Sequence) vertraut gemacht werden. Drei Menschen, die in Anlehnung an einen Tausendfüßler eine völlig neuartige Kette der Nahrungsverdauung und des unfreiwilligen Kotverzehrs bilden müssen, schon diese eine Information reichte vollkommen aus, um dem Streifen bereits vorab einen Internet-Hype zu bescheren, der sich gewaschen hatte und der einen eigentlich nur an die damals ähnlichen Reaktionen zu dem berüchtigten "2 Girls 1 Cup"-Video erinnern konnte. Somit war die zugegebenermaßen kaum mehr in Worte zu fassende Story des Films schon in aller Munde, noch bevor irgendwer den eigentlichen Film überhaupt gesehen hatte. Das goldene Los aus den Früchten des viralen Marketings zog somit vor allem der Regisseur dieser filmischen Grenzüberschreitung, der Niederländer Tom Six, welcher The Human Centipede (First Sequence) mit wenig finanziellen Mitteln und einem internationalen Cast an seiner Seite ursprünglich gar aus einer spontanen Idee heraus inszenierte. Ist sein Werk nun aber die von vielen erwartete, niederträchtige Fäkal- und Ekel-Arie und somit der finale Niedergang jedweden Niveaus im Horrorgenre? Nun, zur großen Überraschung ist dies beileibe nicht der Fall. Obgleich es sich hierbei zweifellos um starken Tobak handelt, der mit Sicherheit auch die eine oder andere Appetitlosigkeit verschulden wird, so präsentiert sich Tom Six' kontroverser Schocker weniger als stumpfer Exploitation-Dampfhammer, sondern scheint seine Hausaufgaben als ausgeklügeltes Nischenkino in inszenatorischer Hinsicht durchaus gemacht zu haben.
Six, der sich mit Streifen wie Gay in Amsterdam oder I Love Dries in der Vergangenheit nicht gerade einem Namen beim Mainstreampublikum, von einem Publikum im vierstelligen Zuschauerbereich ganz zu schweigen, machen konnte, kokettiert mit seinem prestigeträchtigen Sicko nun mit einer Vielzahl an Einflüssen, tobt sich derweil an seiner kranken Story munter aus und lässt die Konventionen des Genres mit spielerischer Leichtigkeit hinter sich. Während Vergleiche mit Titeln wie Hostel oder gar Martyrs zunächst auf der Hand zu liegen scheinen, so widersetzt sich diese niederländische Produktion dem Foltertrend der letzten Jahre mit eiserner Entschlossenheit, diverse Gorehounds dürften sich von dem eher dezenten Blutfluss letztendlich sogar enttäuscht zeigen. Aus reiner Sicht auf die visuellen Grausamkeiten in The Human Centipede (First Sequence) dürfte dem Film selbst einem ungeschnittenen Release in Deutschland nichts im Wege stehen, da das Werk seine morbide Atmosphäre fast gänzlich aus dem menschenverachtenden Storykontext bezieht. Es gab wohl in der Historie dieses Genres selten Opfer, in dessen Lage man sich weniger gerne versetzt hätte als in die der drei Versuchskaninchen des Dr. Heiter, selbst der Tod wäre eine dankbare Alternative zu dem Schicksal dieser Protagonisten. Irgendwo zwischen der kranken Atmosphäre von Pier Paolo Pasolini's Die 120 Tage von Sodom und der grimmigen Bitterkeit des neuen, französischen Genrekinos bezieht The Human Centipede (First Sequence) seine Spannung dann zunächst auch aus der konsequenten Aussicht auf das Unabwendbare, inklusive einiger Katz- und Mausjagden durch das labyrinthartige Haus des Chirurgen, bis sich die Perversion schließlich Bahn bricht und sich das Geschehen auf die Interaktion des menschlichen Tausendfüßlers fokussiert.
Visuell pendelt man sich derweil zwischen Low-Budget und unterkühlter Arthouse-Optik ein, was dem Film schnell eine ganz eigene Note verleiht. Technisch gibt es hier nichts auszusetzen, die Arbeit mit der Kamera ist versiert und übersichtlich, während die Kulissen mit ihrer bewusst farblosen und tristen Ausstattung viel zur nihilistisch angehauchten Stimmung des Films beitragen. Wer sich derweil noch skeptisch zeigt, ob und wie sich die Laufzeit eines Streifens um eine menschliche Tausendfüßler-Kreation abwechslungsreich füllen lässt, der darf überrascht sein, wie kurzweilig und wendungsreich The Human Centipede (First Sequence) insgesamt fast durchgehend daherkommt, ohne dabei auch nur einmal Gefahr zu laufen, in Wiederholung oder Langatmigkeit abzudriften. Was hier gezeigt wird ist böse, überraschend spannend und ab und an sogar mit einer Prise schwarzen Humors versehen. Wenn beispielsweise das erste Glied der menschlichen Kette, das sich noch als einziges verständigen kann, zum ersten Mal seine Notdurft verrichten muss und sich weinend und wimmernd dafür entschuldigt (Shit, I have to shit, I'm so sorry!"), dann ist dies in all seiner Perversion schon wieder derart grotesk und überzogen, dass man eigentlich nur noch herzhaft darüber lachen kann.
Ja, die größte Überraschung dürfte somit wohl sein, dass dieses Werk nicht nur als bizarres Ekel-Szenario, sondern auch als vollwertiger und ernstzunehmender Genre-Vertreter erstaunlich solide funktioniert. Wenn man dem Film jedoch auf Teufel komm raus etwas zur Last legen möchte, dann würden zumindest die mitunter wieder einmal überaus realitätsfremden Verhaltensweisen der Opfer genügend Angriffsfläche bieten, aber daran dürfte man sich als gestander Horror-Enthusiast onehin schon gewöhnt haben. Nicht einmal der Auftritt zweier unglaublicher tumber und begriffsstutziger Polizisten im letzten Drittel trübt den Gesamteindruck da sonderlich, da diese Figuren onehin nur Beiwerk darstellen und sich die Handlung ansonsten gänzlich auf Dr. Heiter und seine anstoßerregende Schöpfung konzentriert. Erfreulicherweise gibt es von der Schauspielerfront dann auch nur Positives zu berichten. Gerade der deutsche Akteur Dieter Laser, der hierzulande bereits auf eine langjährige Karriere in Film und Fernsehen zurückblicken darf, legt eine unglaublich wahnsinnige Performance an den Tag und spielt damit vielleicht sogar die Rolle seines Lebens. Gegen das absolut diabolische und regelrecht furchteinflößende Spiel des markanten Deutschen verkommen die anderen Mimen, Akihiro Kitamura, Ashley C. Williams und Ashlynn Yennie zu bloßen Stichwortgebern, zumal sie ab einem gewissen Zeitpunkt auch nicht mehr zu tun haben, als auf allen vieren kriechend am After des Vordermanns zu kleben. Bislang existiert The Human Centipede (First Sequence) übrigens nur im Originalton, den es jedoch einer irgendwann eventuell erscheinenden Synchronfassung bedigungslos vorzuziehen gilt. Diverse Sprachbarrieren des multilingualen Casts oder die in Deutsch gehaltenen Wutausbrüche Dr. Heiters, all das würde in einer komplett deutschen Fassung seinen Reiz verlieren, zumal einfache Englischkenntnisse ihren Zweck onehin erfüllen, um den Film im O-Ton zu verstehen.
Insgesamt gesehen ist The Human Centipede (First Sequence) somit ein provokanter, eigenwilliger und absolut nicht jedermann anzuratender Horror/Exploitation-Reißer, dessen schwer geisteskranke Story allerdings nur selten die erwarteten Ekel-Ausbrüche heraufbeschwört, sondern zumeist auf dichte Atmosphäre sowie das garantierte Kopfkino seines Publikums setzt. Spannend, grotesk, absolut kurzweilig und von Dieter Laser in der Hauptrolle beängstigend gut gespielt, ist The Human Centipede (First Sequence) somit ein überaus interessantes Kontrastprogramm zum sonstigen Genre-Einheitsbrei. Die gänzlich abgehärtete Hardgore-Fraktion sollte hingegen lieber auf das bereits von Tom Six angekündigte Sequel The Human Centipede (Full Sequence) warten, gegen das der erste Teil dann scheinbar wie My Little Pony aussehen soll.. Yummy, wir sind gespannt!