Kalla Malla
Zum Film »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« muss man nicht mehr viel sagen, er ist schlicht eine der besten Literatur-Verfilmungen aller Zeiten.
Zwei Paare treffen sich nach einer Party noch auf einen Drink, doch der Abend läuft völlig aus dem Ruder. Verbale Attacken, Beleidigungen, Selbstzerfleischung, Ehebruch und das Aufdecken sämtlicher Lebenslügen stehen am Ende einer katastrophalen Begegnung.
Das zugrunde liegende Theaterstück von Edward Albee wurde von dem jungen Mike Nichols (sein Regie-Debüt) atemberaubend an nur wenigen Schauplätzen inszeniert, und die Darstellerleistungen von Richard Burton, Elizabeth Taylor, Sandy Dennis und George Segal gehören zu dem Großartigsten, was der amerikanische Film der 60er (oder jemals) hervorgebracht hat. Gerade Elizabeth Taylor, die Zeit ihres Lebens damit zu kämpfen hatte, als Schauspielerin nicht ernst genommen zu werden (ein absurder Vorwurf aus heutiger Sicht, besonders wenn man sich aktuelle "Filmschauspielerinnen" anschaut), konnte mit ihrer sensationellen Leistung sämtliche Kritiker überzeugen - sogar Marlon Brando, der sich stets weigerte, mit ihr gemeinsam in einem Film aufzutreten und seine Meinung nach »Virginia Woolf« revidierte (sie spielten später zusammen in »Spiegelbild im goldenen Auge«).
Haskell Wexlers Kamera tut das, was sie tun muss: Sie »porträtiert« die beiden Protagonisten in ihre ganzen Zwanghaftigkeit, in ihrer daraus resultierenden »Kriegslüsternheit« unnachahmlich. Wie ein Drehbuch entrollt sich der Schlachtplan beider vor unseren Augen. Ein Kriegsfilm - könnte man fast sagen. Umso deutlicher enthüllt sich aber auch das Gefängnis, in dem Martha und George sich selbst eingesperrt haben. Kein Befreiungsversuch ist hier sichtbar, die Schläge, die ausgetauscht werden, richten sich nicht etwa gegen die eigene Unterdrückung oder die des anderen; sie haben den einzigen Zweck, diese Unterdrückung noch zu verstärken, die Abhängigkeit zu zementieren - begleitet vom Konsum einer Unmenge von harten alkoholischen Getränken. So ist auch kaum zu erwarten, dass dieser Krieg den Zweck hat, den anderen physisch zu töten. Nein, der Tod des jeweils anderen würde den Krieg beenden und einem von beiden den Kriegsgegner nehmen. Beide wollen diesen Krieg auf ewig fortführen, weil sie ohne ihn nicht leben können.
Taylor und Burton sprengen mit ihren hasserfüllten Wortwechseln und konstanten Beleidigungen jede Kinoleinwand bzw. jeden Bildschirm. Das Finale vermag auch heute noch jeden Zuschauer bis ins Mark zu erschüttern. Das Theaterstück war seinerzeit sehr umstritten, und auch Mike Nichols bekam wegen der gesprochenen Vulgaritäten heftige Probleme mit der Zensur - der Film ging in die Geschichte ein als Begründer des neuen Rating-Systems in den USA und kann als Vorläufer des New Hollywood betrachtet werden. »Virginia Woolf« ist ein verdienter Filmklassiker, der den Zuschauer bis an die Grenzen des Erträglichen fordert und auslaugt. Wer von uns war nicht schon einmal bei Freunden eingeladen, die plötzlich verbal aufeinander losgingen? Genau diese Art Unwohlsein fühlt man als Zuschauer durchgängig bei »Virginia Woolf«. Man möchte wegsehen, aber man kann nicht. Immer wieder großartig!