Kalla Malla
1911: Der deutsche Komponist Gustav von Aschenbach – unvergesslich dargestellt von Dirk Bogarde – ist zur Genesung nach Venedig gereist und im luxuriösen Grand Hôtel des Bains abgestiegen. Dort begegnet er Tadzio, einem androgynen Jüngling, von dem er sofort fasziniert ist. Der junge Pole verbringt die Ferien zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im selben Hotel wie Aschenbach. Bei der Wiederbegegnung am Lido gerät der alternde Künstler völlig in den Bann des schönen jungen Mannes. Während sich die Cholera in der Lagunenstadt verbreitet, hat Aschenbach nur noch Augen für Tadzio, den er aus der Ferne beobachtet, aber nie anzusprechen wagt.
Über lange Zeit haben kinobegeisterte Intellektuelle diesen Film innerhalb von Viscontis umfassendem Gesamtwerk unterschätzt. Der italienische Regisseur galt als so schamlos genial und überlegen, dass die Kritiker nicht das Bedürfnis verspürten, ihn neu zu entdecken und neu zu bewerten. Dennoch verdient dieses Meisterwerk des internationalen Films eine neue Betrachtung. Viscontis höchst verfeinerter Stil, sein ungeheurer Perfektionismus, seine übertriebene Liebe zu Kostümen und Kulissen, sein Rückzug in die »goldene« alte Zeit – all dies wurde ein wenig vorschnell belächelt.
Darüber hat man vergessen, dass »Tod in Venedig« ein sehr tiefgründiger Filmessay ist, in dem über zentrale Fragen wie Kunst, Schönheit und Alter, aber auch Blick und Begehren reflektiert wird. Dabei kommt der Film fast ohne jede Handlung aus. Wir sind mitten in der experimentellen Dimension von Viscontis Filmschaffen, der sich hier dem sensualistischen Stil von Marcel Proust annähert. Damals träumte der Regisseur davon, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« zu verfilmen, musste das Projekt aber leider einige Jahre später aufgeben. Mit »Tod in Venedig« gelingt Visconti ein wunderbares, in der Atmosphäre der Dekadenz verankertes Nachsinnen über die Unterschiede zwischen Leben und Kunst.
In dieser homosexuellen Träumerei wird der optische Zoom – das heißt eine unbewegliche Bewegung – auf geniale Weise verwendet, um voyeuristische Neigungen und Todesverlangen auszudrücken. Viscontis Streifen ist eine sehr eigenständige, der Spezifik des Kinos vollkommen gerecht werdende Verfilmung von Thomas Manns Novelle »Tod in Venedig«: In den von Visconti eingefügten Rückblenden werden auch Elemente aus Manns Roman »Doktor Faustus« verarbeitet.
Darüber hinaus verwandelt der Regisseur Manns Hauptfigur, einen Schriftsteller, in einen Komponisten, dem er - wie übrigens Thomas Mann selbst in seiner Novelle - Züge des Komponisten Gustav Mahler verleiht. Wenn im Film das Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie erklingt, so bildet die Musik die perfekte Entsprechung zu Aschenbachs unendlicher Traurigkeit und den wunderbaren Bildern von »Tod in Venedig«.
Fazit: Visconti taucht sein Venedig in schaurige, teilweise morbide Bilder, und sein Inszenierungsstil ist langsam, fast bedächtig. Hier liegt vielleicht die einzige Schwäche des Films. Hin und wieder schrammt »Tod in Venedig« haarscharf an gepflegter Langeweile vorbei und droht eine der klassischen, spröden Literaturverfilmungen zu werden. Aber die hervorragende Leistung von Dirk Bogarde als zutiefst verunsicherter, in hoffnugslosem Begehren verfallener Künstler, gleicht diese Schwächen immer wieder mühelos aus. Wenn er auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend überschminkt und ausstaffiert wie eine groteske Marionette seinen letzten Gang zum Strand antritt, erreicht der Film seinen künstlerischen Höhepunkt und berührt zutiefst.