Kalla Malla
Martha (Margit Carstensen) ist Anfang dreißig, ledig und durchaus attraktiv. Auf einer Urlaubsreise nach Rom erleidet ihr Vater einen Herzinfarkt und stirbt. In der deutschen Botschaft in Rom lernt sie ihre große Liebe Helmut (Karlheinz Böhm) kennen. Die beiden heiraten. Schon auf der Hochzeitsreise beginnt Helmut auf sanfte, aber unnachgiebige Art Martha »zu erziehen«. Wieder zurück in Deutschland, mietet er für sie beide ein hochherrschaftliches Haus, in dem er Martha zunehmend von der Außenwelt isoliert. Er läßt das Telefon entfernen und kündigt hinter ihrem Rücken ihre Anstellung in der Bibliothek. Aus Liebe läßt Martha sich alles gefallen. Als sie sich eines Tages dagegen auflehnt und einen Ausflug in die Selbständigkeit macht, ist es bereits zu spät. Nach einem Autounfall ist sie an den Rollstuhl gefesselt, wo sie von Helmut sadistisch-liebevoll gepflegt, den Rest ihres Lebens verbringen wird...
»Martha« ist dem Normalzuschauer wahrscheinlich eher unbekannt, dabei handelt es sich hier um einen der besten (wenn nicht DEN besten) Fassbinder-Filme überhaupt. Die Geschichte einer kranken Horror-Ehe wurde von R.W. Fassbinder mit Lust am Sadismus und dem genauen Blick auf Beziehungen, unter deren biederer Oberfläche Grausamkeit, Wahnsinn und Abhängigkeit brodeln, mit viel Einfallsreichtum (Martha bekommt einen romantischen Heiratsantrag, während sie sich nach einer Achterbahnfahrt übergibt) inszeniert und von Kameramann Michael Ballhaus grandios fotografiert (berühmt ist der 360 Grad-Schwenk bei der ersten Begegnung der Hauptfiguren).
Karlheinz Böhm wurde von Fassbinder quasi neu entdeckt und neu erfunden. Seine Darstellung des langweiligen Spießers, der nur Lust verspürt, wenn er seine Frau unterdrückt oder wie ein Vampir über sie herfällt, ist grandios. Margit Carstensen liefert eine ganz eigene, skurrile, sogar ausgesprochen witzige Darstellung ab, die unvergesslich bleibt.
»Martha« ist sozusagen die triviale »Hollywood«-Variante zu Fontanes »Effi Briest«. Sind die Erziehungsmaßnahmen eines erwachsenen Mannes an einer erwachsenen Frau im Fontane-Film mit dem Druck gesellschaftlicher Normen zu erklären, so sind sie bei »Martha« Ausdruck eines psychologischen Problems. Bei ihrer ersten Begegnung, wenn Martha und Helmut eine Spur zu dicht voreinander stehen bleiben, zeichnet sich die gegenseitige Faszination, aber auch schon das zukünftige Abhängigkeitsverhältnis ab.
Sind die vorausgegangenen Arbeiten Fassbinders aus heutiger Sicht eher als »No-Budget«-Produktionen zu bezeichnen, so gehört »Martha« zu den ersten Filmen des Regisseurs, die immerhin als »Low-Budget«-Werke gelten können. Fassbinders Regie wurde opulenter, kulinarischer, eleganter – auch unter dem Einfluss von Michael Ballhaus.Eine der berühmten Ballhaus'schen Kamerafahrten umkreist die beiden Hauptdarsteller, um sie wie mit Zentrifugalkraft noch einmal auseinander zu wirbeln. Bei ihrem ersten, leidenschaftlichen Kuss gleicht die Kamerabewegung dagegen schon einem Strudel, in dem beide rettungslos versinken.
Fassbinder: »Wenn Martha zum Schluss des Films alleine nicht mehr lebensfährig ist, dann hat sie das erreicht, was sie eigentlich wollte... Die meisten Männer können nur nicht so perfekt unterdrücken wie die Frauen es gerne hätten.«
Die deutsche Kinoerstaufführung fand in einer restaurierten Fassung erst am 17. November 1997 statt, nachdem die Produktion aus rechtlichen Gründen 20 Jahre lang nicht im Kino hatte gezeigt werden durfte.